Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
sie herauskommen. Sie hat nie vergessen, wie ihre eigene Mutter im Fieberwahn lag und keinen mehr erkannte, bis sie drei Tage nach Walters Geburt starb. Sie hatte aufgeschrien vor dem schwarzen Kessel, der über dem Feuer hing, weil sie dachte, der steckte voller Teufel.
    Ihre Brüder nennen Mary
Klein-Mary
, und tatsächlich hat die Unscheinbarkeit und Schüchternheit vieler der Frauen in ihrer Familie dazu geführt, dass dieses Wort ihren Taufnamen hinzugefügt wurde, wobei die Namen selbst in etwas weniger Gewichtiges und Anmutiges geändert wurden. Isabel wurde Klein-Tibbie; Margaret Klein-Maggie; Jane Klein-Jennie. Die Leute in Ettrick behaupten jedenfalls, das hübsche Gesicht und den Wuchs bekämen nur die Männer ab.
    Mary ist keine fünf Fuß groß, hat ein kleines, verkniffenes Gesicht mit vorspringendem Knubbelkinn und eine Haut, die oft von feuerrotem Ausschlag heimgesucht wird, der lange braucht, um abzuheilen. Wenn sie angesprochen wird, zuckt ihr Mund, als hätten sich die Wörter in ihrem Speichel und ihren schiefen kleinen Zähnen verfangen, und die Antwort, die sie zustande bringt, ist ein Rinnsal aus Sprache, so dünn und durcheinander, dass es den Leuten schwer fällt, sie nicht für schwachsinnig zu halten. Sie hat große Schwierigkeiten, jemandem ins Gesicht zu sehen – sogar den Mitgliedern ihrer eigenen Familie. Nur, wenn sie den kleinen Jungen auf das schmale Sims ihrer Hüfte gesetzt bekommt, ist sie fähig, ein paar zusammenhängende und deutliche Wörter zu äußern – und dann meistens nur zu ihm.
    Jemand sagt jetzt etwas zu ihr. Jemand fast so winzig wie sie selbst – ein kleiner, brauner Mann, ein Matrose mit grauem Backenbart und ohne einen Zahn im Mund. Er sieht sie fest an, dann den kleinen James, dann wieder sie – inmitten der vorandrängenden oder herumstehenden, verwirrten oder neugierigen Menge. Anfangs denkt sie, er spricht in einer fremden Sprache, doch dann versteht sie das Wort
Kuh
. Unversehens antwortet sie ihm mit demselben Wort, und er lacht und wedelt mit den Armen, zeigt zu einer Stelle weiter hinten auf dem Schiff, dann auf James und lacht wieder. Etwas, zu dem sie James hinbringen soll, so dass er es sehen kann. Sie muss »Ja, ja« sagen, damit er aufhört zu schwatzen, und dann in jene Richtung gehen, damit er nicht enttäuscht ist.
    Sie fragt sich, aus welchem Teil des Landes oder der Welt er kommen mag, dann wird ihr klar, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem Fremden gesprochen hat. Und abgesehen von der Schwierigkeit zu verstehen, was er sagte, hat sie das viel leichter fertiggebracht, als wenn sie mit einem Nachbarn in Ettrick oder mit ihrem Vater sprechen muss.
    Sie hört das Muhen der Kuh, ohne sie sehen zu können. Die Leute rings um James und sie drängen sich immer dichter, bilden vor ihr eine Mauer und drücken von hinten. Dann hört sie das Muhen am Himmel, schaut hoch und sieht die braune Kuh in der Luft hängen, in Seile eingeschnürt, wie rasend brüllend und ausschlagend. Sie wird von einem Haken an einem Kran gehalten, der sie jetzt außer Sicht schwenkt. Leute um sie herum johlen und klatschen in die Hände. Eine Kinderstimme ruft etwas in der Sprache, die sie versteht, will wissen, ob die Kuh ins Meer geworfen wird. Eine Männerstimme antwortet, nein, sie kommt mit aufs Schiff, auf die Reise.
    »Und werden die sie melken?«
    »Ja. Sei still. Die werden sie melken«, sagt der Mann ermahnend. Eine andere Männerstimme übertönt ihn lustig.
    »Die werden sie melken, bis sie ihr eins mit dem Hammer geben, und dann bekommst du Blutwurst zum Abendbrot.«
    Jetzt werden Hühner in Lattenkisten durch die Luft geschwungen, alle gackern und flattern in ihren Käfigen und hacken aufeinander ein, wenn sie können, so dass einige Federn sich lösen und herabschweben. Nach ihnen kommt ein wie die Kuh verschnürtes Schwein, das in seiner Not mit menschlichen Tönen quiekst und hoch in der Luft heftig scheißt, so dass unten empörte Schreie oder lustige Juchzer aufsteigen, je nachdem, ob sie von denen kommen, die getroffen werden, oder von denen, sie sehen, wie andere getroffen werden.
    James lacht auch, er erkennt Schiete und ruft sein eigenes Wort dafür,
Graggel
.
    Eines Tages wird er sich vielleicht daran erinnern.
Ich habe eine Kuh und ein Schwein durch die Luft fliegen sehen
. Dann mag er sich fragen, ob das ein Traum war. Und niemand wird da sein – sie ganz gewiss nicht, um ihm zu sagen, dass es kein Traum war, sondern auf diesem

Weitere Kostenlose Bücher