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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nach einer Beinahekatastrophe. Die schamlosen Hände und der schmatzende Kuss. In all dem lag eine unheimliche Bedrohung, angefangen damit, mich in die Rolle der besten Freundin zu zwingen – beide hatten mich so genannt –, während ich nichts dergleichen war. Mich als gut und harmlos zu behandeln, während ich weder das eine noch das andere war.
    Was war diese Bedrohung? Nur die der Liebe oder des liebevollen Umgangs? Falls ja, müsste man sagen, dass ich zu spät damit Bekanntschaft gemacht hatte. Bei solch übergroßer Aufmerksamkeit fühlte ich mich in die Ecke getrieben und gedemütigt, fast, als hätte mir jemand in den Schlüpfer geschaut. Sogar das herrliche, ungewohnte Essen war in meiner Erinnerung verdächtig. Nur die Filmillustrierten blieben unbelastet.
    Am Ende der Weihnachtsferien stand das Haus der Wainwrights leer. In jenem Jahr fiel so viel Schnee, dass das Küchendach einstürzte. Auch danach machte sich niemand die Mühe, das Haus abzureißen oder ein BETRETEN - VERBOTEN -Schild aufzustellen, und noch jahrelang danach durchstöberten Kinder – darunter auch ich – die gefährliche Ruine nach irgendwelchen Fundstücken. Niemand schien sich über Unfälle oder Haftpflicht Gedanken zu machen.
    Filmillustrierte kamen nicht ans Licht.
     
    Ich habe schon von Dahlia erzählt. Doch zu der Zeit war ich in meiner eigenen Vorstellung eine völlig andere Person als das Mädchen, das im Haus der Wainwrights gewesen war. In den ersten Jahren meines zweiten Lebensjahrzehnts wurde ich zu Hause zur Komikerin. Ich meine damit nicht, dass ich ständig versuchte, die Familie zum Lachen zu bringen – obwohl ich das auch tat –, sondern dass ich Neuigkeiten und Klatsch weitergab. Ich erzählte Dinge, die in der Schule vorgefallen waren, aber auch Dinge, die in der Stadt vorgefallen waren. Oder ich beschrieb einfach das Aussehen und die Sprechweise von jemandem, den ich auf der Straße gesehen hatte. Ich hatte gelernt, das auf eine Weise zu tun, dass ich nicht getadelt werden konnte, ich sei sarkastisch oder ordinär, oder zu hören bekam, ich sei schlauer, als mir gut tue. Ich hatte mir einen ausdruckslosen, sogar schüchternen Stil angewöhnt, der andere zum Lachen bringen konnte, auch wenn sie meinten, eigentlich nicht lachen zu dürfen, und der es ihnen schwer machte, zu sagen, ob ich unschuldig oder boshaft war.
    Auf diese Weise erzählte ich von Dahlia, ihrem Schleichen durch den Sumach, um ihrem Vater nachzuspionieren, ihrem Hass auf ihn und ihrem Gerede, ihn umzubringen. Das war auch die Art, in der jede Geschichte über die Newcombes erzählt werden musste, nicht nur von mir. Jede Geschichte über sie musste zu jedermanns Zufriedenheit bestätigen, wie gründlich und gewissenhaft sie ihre Rollen spielten. Und nun schien auch Dahlia in dieses Bild zu gehören. Das Spionieren, die Drohungen, das Melodrama. Sein Angriff auf sie mit der Schaufel. Ihre Überlegungen, wenn er sie totgeschlagen hätte, wäre er gehängt worden. Und dass sie nicht gehängt werden konnte, wenn sie ihn umbrachte, weil sie noch minderjährig war.
    Mein Vater stimmte zu.
    »Schwer, ein Gericht hier in der Gegend dazu zu bringen, sie zu verurteilen.«
    Meine Mutter sagte, es sei eine Schande, was ein Mann wie der aus seiner Tochter gemacht habe.
    Jetzt kommt es mir seltsam vor, dass wir dieses Gespräch so leicht führen konnten, ohne daran zu denken, dass auch mein Vater mich manchmal geschlagen hatte und dass ich geschrien hatte – nein, nicht dass ich ihn umbringen würde, sondern dass ich sterben wollte. Und dass es vor gar nicht langer Zeit passiert war – drei- oder viermal. Nämlich in den Jahren, als ich elf oder zwölf war. Es geschah, nachdem ich Frances gekannt hatte und bevor ich Dahlia kannte. Ich wurde stets für einen Streit mit meiner Mutter bestraft, für patzige oder freche Antworten oder für Bockigkeit. Sie holte dann meinen Vater von seiner Arbeit draußen herein, und ich erwartete sein Kommen anfangs mit verstockter Wut und dann mit Verzweiflung bis hin zur Übelkeit. Ich fühlte mich, als wollten sie mir mein eigenes Ich austreiben, und ich glaube, ein bisschen war es auch so. Der wichtigtuerische, streitsüchtige Teil meines Ichs sollte mir ausgeprügelt werden. Wenn mein Vater anfing, den Gürtel abzunehmen – denn damit schlug er mich immer, fing ich an zu schreien
nein, nein
und mich stammelnd zu verteidigen, in einer Weise, die ihn offenbar veranlasste, mich zu verachten. Und mein damaliges

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