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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Verhalten verdiente wirklich Verachtung, denn es zeigte keinerlei Stolz oder auch nur Selbstachtung. Mir war das egal. Und wenn der Gürtel erhoben war, in der Sekunde, bevor er niedersauste, offenbarte sich mir etwas Schreckliches. Der Sieg der Ungerechtigkeit. Ich konnte nie meine Seite der Dinge schildern, gegen die Verachtung, die mein Vater mir entgegenbrachte, kam ich nicht an. Was gab es für mich anderes als gegen solche Widernatürlichkeit anzuschreien?
    Wenn mein Vater heute noch am Leben wäre, würde er bestimmt sagen, dass ich übertreibe, dass die Demütigung, die er mir zufügen wollte, längst nicht so groß war und dass meine Vergehen ihn ratlos machten, und wie soll man anders mit Kindern fertig werden? Ich bereitete ihm Ärger und meiner Mutter Kummer und musste dazu gebracht werden, mein Verhalten zu ändern.
    Und das tat ich auch. Ich wurde älter. Ich machte mich im Haus nützlich. Ich lernte, keine frechen Antworten zu geben. Ich fand Wege, mich beliebt zu machen.
    Und als ich mit Dahlia zusammen war, als ich ihr zuhörte, als ich allein nach Hause ging und als ich die Geschichte meiner Familie erzählte, dachte ich kein einziges Mal daran, meine Situation mit ihrer zu vergleichen. Natürlich nicht. Wir waren ja anständige Leute. Auch wenn das Verhalten ihrer Familie sie manchmal betrübte, ging meine Mutter nicht mit strähnigen Haaren oder schlappenden Gummigaloschen in die Stadt. Und mein Vater fluchte nicht. Er besaß Ehre, war tüchtig und humorvoll, und nicht meine Mutter, sondern er war es, dem ich unbedingt gefallen wollte. Ich hasste ihn nicht, konnte nicht einmal in Erwägung ziehen, ihn zu hassen. Stattdessen sah ich, was er in mir hasste. Eine unsichere Arroganz in meinem Charakter, etwas Unverschämtes, jedoch Feiges, das ihn zur Weißglut brachte.
    Scham. Die Scham, weil ich verprügelt wurde, und die Scham, weil ich jämmerlich vor den Prügeln kroch. Unaufhörliche Scham. Bloßstellung. Und etwas, so empfinde ich es heute, verbindet das mit der Scham, dem Ekel, die mich beschlichen, als ich die leisen Schritte der Pantoffelfüße von Mr Wainwright und seinen Atem hörte. Forderungen, die unanständig schienen, abscheuliche Übergriffe, sowohl verstohlen als auch direkt. Einige, gegen die ich meine Haut anspannen konnte, andere, von denen sie wund wurde. Alle Teil der Gefahren im Leben eines Kindes.
    Und wie es über das heißt, was uns formt oder verformt: Wenn es nicht das eine ist, so ist es etwas anderes. Zumindest sagten das damals die älteren Leute. Geheimnisvoll, ohne Trost, ohne Anklage.
    Am Morgen des vergangenen Freitags fand Harvey Ryan Newcombe, ein weithin bekannter Farmer des Landkreises Shelby, den Tod durch einen elektrischen Schlag. Er war der geliebte Ehemann von Dorothy (Morris) Newcombe, und es trauern um ihn seine Töchter Mrs Joseph (April) McConachie in Sarnica, Mrs Evan (Corinne) Wilson in Kaslo, British Columbia, Mrs Hugh (Gloria) Whitehead in der hiesigen Stadt, die Misses Susannah und Dahlia, ebenso in der hiesigen Stadt, sowie ein Sohn Raymond, zu Hause, des weiteren sieben Enkelkinder. Die Trauerfeier wurde am Montagnachmittag vom Bestattungsinstitut Gebrüder Reavie abgehalten, und die Beerdigung erfolgte auf dem Friedhof Bethel.
    Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.
    Dahlia Newcombe konnte unmöglich etwas mit dem Unfall ihres Vaters zu tun gehabt haben. Er geschah, als er hinauflangte, um eine Glühbirne in einer herunterhängenden Metallfassung anzudrehen, während er im Stall eines Nachbarn auf nassem Fußboden stand. Er hatte eine seiner Kühe dort zum Bullen geführt und stritt sich gerade um das Honorar. Aus irgendeinem Grund, den niemand verstehen konnte, hatte er seine Gummistiefel nicht an, die, so sagten alle, ihm das Leben gerettet hätten.

Unterm Apfelbaum liegen
    Auf der anderen Seite der Stadt lebte eine Frau namens Miriam McAlpin, die Pferde hielt. Diese Tiere gehörten ihr nicht – sie nahm die Pferde in Pension und bewegte sie für ihre Besitzer, die sie in Trabrennen einsetzten. Sie wohnte in einem Haus, das ursprünglich das Farmhaus gewesen war, gleich neben den Pferdeställen, zusammen mit ihren alten Eltern, die selten vor die Tür gingen. Hinter dem Haus und den Stallungen lag eine ovale Rennbahn, auf der hin und wieder Miriam oder ihr Stalljunge oder manchmal auch die Besitzer selbst auf dem niedrigen Sitz eines zerbrechlich aussehenden Sulkys zu sehen waren, wenn sie

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