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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sich, nach der ich mich sehnte. Es war fast wie das Niederknien in der Kirche, was wir in unserer Kirche nicht taten. Ich hatte es einmal getan, als ich mit Delia Cavanaugh befreundet war und ihre Mutter uns an einem Sonntag in die katholische Kirche zum Arrangieren der Blumen mitnahm. Ich bekreuzigte mich und kniete mich in eine der Kirchenbänke, und Delia sagte, nicht mal im Flüsterton: »Warum machst du denn das? Du darfst das nicht. Nur wir.«
     
    Ich ließ das Rad im Gras liegen. Es war Abend. Ich war auf Nebenstraßen durch die Stadt gefahren. Niemand war zu sehen, weder auf dem Hof vor den Ställen noch in der Nähe des Hauses. Ich hievte mich über den Zaun. Ich ging so schnell ich konnte, ohne zu rennen, über die Wiese, wo die Pferde das frische Gras abgeweidet hatten. Ich schlüpfte unter die Zweige des großen Baums und ging gebückt und stolpernd weiter, manchmal von den Blüten ins Gesicht getroffen, bis ich den Stamm erreichte und das tun konnte, wofür ich gekommen war.
    Ich legte mich flach auf den Rücken. Eine Wurzel des Baums ragte unter mir hart aus dem Boden, also musste ich ein Stück rücken. Und die Äpfel vom letzten Jahr, dunkel wie Klumpen aus Dörrfleisch, lagen umher, die ich wegräumen musste, bevor ich mich niederlassen konnte. Auch dann, als ich zur Ruhe gekommen war, blieb mir bewusst, dass mein Körper sich in einer seltsamen und unnatürlichen Lage befand. Und als ich aufsah zu all den perlweißen Blütenblättern mit ihrem Hauch von Rosa, all den aneinandergereihten Sträußchen, wurde ich nicht ganz in den andächtigen Geisteszustand fortgerissen, den ich mir davon versprochen hatte. Der Himmel war bezogen, und was ich davon sehen konnte, erinnerte mich an schmutzige Porzellanscherben.
    Nicht, dass es die Mühe nicht wert war. Zumindest – wie ich zu verstehen begann, als ich aufstand und hinauskrabbelte – war es die Mühe wert gewesen. Und lief eher auf ein Eingeständnis hinaus als auf ein Erlebnis. Ich hastete über die Wiese, kletterte über den Zaun, richtete mein Fahrrad auf und wollte gerade losfahren, als ich jemanden laut nach mir pfeifen und rufen hörte.
    »He. Du. Ja. Du.«
    Es war Miriam McAlpin.
    »Komm mal hierher.«
    Ich schoss herum. In der Auffahrt zwischen dem alten Haus und den Pferdeställen redete Miriam mit zwei Männern, die in dem Auto gekommen sein mussten, das am Straßenrand stand. Sie trugen weiße Hemden sowie Anzughosen und -westen – genau das, was jeder Mann, der zu jener Zeit an einem Schreibtisch oder hinter einem Ladentisch arbeitete, von früh bis spät trug. Miriam sah in ihrer Drillichhose und ihrem weiten karierten Hemd aus wie ein frecher, zwölfjähriger Junge, obwohl sie eine Frau zwischen fünfundzwanzig und dreißig war. Entweder wie ein Junge oder wie ein Jockey. Kurzgeschorene Haare, vorgekrümmte Schultern, rauhe Haut. Sie fasste mich ins Auge, bedrohlich und spöttisch.
    »Ich hab dich gesehen«, sagte sie. »Drüben auf unsrer Weide.«
    Ich sagte nichts. Ich wusste, was sie als Nächstes fragen würde, und versuchte, mir eine Antwort auszudenken.
    »Also. Was hast du da gemacht?«
    »Was gesucht«, sagte ich.
    »Was gesucht. So, so. Und was?«
    »Ein Armband.«
    Ich hatte noch nie im Leben ein Armband besessen.
    »Aha. Wieso hast du gedacht, es ist da drin?«
    »Ich dachte, ich hätt’s verloren.«
    »So, so. Da drin. Wie das?«
    »Weil ich neulich da drin war und nach Morcheln gesucht habe«, flunkerte ich. »Da hatte ich es um, und ich dachte, es kann heruntergerutscht sein.«
    Es stimmte, dass die Leute im Frühling unter alten Apfelbäumen nach Morcheln suchten. Obwohl ich bezweifle, dass sie dabei Armbänder trugen.
    »M-hm«, sagte Miriam. »Hast du welche gefunden? Wie sagst du gleich? Morcheln?«
    Ich sagte nein.
    »Bloß gut. Das wären nämlich meine gewesen.«
    Sie musterte mich von oben bis unten und sagte, was sie schon die ganze Zeit über hatte sagen wollen. »Du fängst aber früh an, was?«
    Einer der Männer sah zu Boden, aber ich meinte, dass er lächelte. Der andere sah mir ins Gesicht und hob in spaßigem Vorwurf leicht die Augenbrauen. Männer, die gewusst hätten, wer ich war, Männer, die meinen Vater gekannt hätten, hätten sich wahrscheinlich nicht so viel anmerken lassen.
    Ich verstand. Miriam dachte – sie alle dachten, dass ich gestern Abend oder an einem anderen Abend mit einem Mann oder einem Jungen unter dem Baum gewesen war.
    »Ab nach Hause«, sagte Miriam. »Du und dein Armband, ab

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