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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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konnte.
    Das Kleid, das ich für meine Ankunft trug, hatte ich selbst geschneidert, aus rosa und weiß gestreifter Baumwolle. Der Stoff war billig gewesen, weil er nämlich nicht für Kleider bestimmt war, sondern für Blusen oder Nachthemden, und der Schnitt, den ich gewählt hatte – weiter Rock und enges Oberteil, wie zu jener Zeit üblich, war ein Fehler. Beim Gehen verknäulte sich der Rock immer wieder zwischen meinen Beinen, sodass ich ihn andauernd befreien musste. Ich trug das Kleid an diesem Tag zum ersten Mal und nahm das Problem leicht – wenn ich nur fest genug daran zog, würde der Stoff richtig fallen. Aber als ich den Gürtel abnahm, musste ich feststellen, dass die Hitze des Tages und meine Fahrt in dem heißen Zug ein schlimmeres Problem geschaffen hatten. Der Gürtel war breit, elastisch, burgunderrot und hatte abgefärbt. Die Taille des Kleides war ringsum erdbeerfarben.
    Ich machte diese Entdeckung, als ich mich im Bootshaus auszog, in dem Obergeschoss, das ich mir mit Mrs Mountjoys zehnjähriger Tochter Mary Ann teilen musste.
    »Was ist denn mit deinem Kleid passiert?«, fragte Mary Ann. »Schwitzt du sehr? Schade drum.«
    Ich sagte, es sei sowieso ein altes Kleid, denn ich hätte für die Bahnfahrt nichts Gutes anziehen wollen.
    Mary Ann war blond und sommersprossig, mit langem Gesicht wie ihre Mutter. Aber sie hatte nicht diesen Gesichtsausdruck rascher, oberflächlich gefasster Urteile, die einen jederzeit anspringen konnten. Ihre Miene war gutmütig und ernst, und sie trug eine Brille mit dicken Gläsern, sogar, wenn sie im Bett aufsaß. Es dauerte nicht lange, bis sie mir erzählte, dass sie an den Augen operiert worden war, trotzdem konnte sie nur schlecht sehen.
    »Ich habe Daddys Augen«, sagte sie. »Ich bin so intelligent wie er, also ist es ein Jammer, dass ich kein Junge bin.«
    Noch ein Unterschied. Da, wo ich herkam, wurden schlaue Jungen mit noch mehr Misstrauen betrachtet als schlaue Mädchen, obwohl Schläue für beide nicht besonders vorteilhaft war. Mädchen konnten Lehrerinnen werden, und das war in Ordnung – auch wenn sie sehr oft alte Jungfern wurden –, aber wenn Jungen aufs College gingen, dann hieß das meistens, dass sie Waschlappen waren.
    Die ganze Nacht lang konnte man das Wasser an die Bretter des Bootshauses klatschen hören. Der Morgen kam früh. Ich überlegte, ob ich so weit nördlich von Zuhause war, dass die Sonne tatsächlich früher aufging. Ich stand auf und sah hinaus. Durch das vordere Fenster sah ich das seidige Wasser, dunkel in der Tiefe, aber an seiner Oberfläche glitzernd, das Licht des Himmels spiegelnd. Das felsige Ufer dieser kleinen Bucht, die vertäuten Segelboote, dahinter das offene Wasser, die Kuppen von ein oder zwei anderen Inseln, dahinter wieder offenes Wasser und weitere Inseln. Ich dachte, ich würde es nie fertigbringen, allein den Weg zurück zum Festland zu finden.
    Ich verstand noch nicht, dass Dienstmädchen nirgendwohin den Weg zu finden brauchten. Sie blieben, wo sie waren, denn da gab es Arbeit für sie. Nur diejenigen, die diese Arbeit verursachten, kamen und gingen.
    Das hintere Fenster blickte auf einen grauen Fels, der wie eine schräge Wand war, mit Vorsprüngen und Spalten darin, wo kleine Kiefern und Zedern und Blaubeersträucher sich angesiedelt hatten. Unten am Fuße der Wand war ein Pfad – den ich später gehen würde, durch den Wald, zu Mrs Mountjoys Haus. Hier war alles noch feucht und fast dunkel, doch wenn man sich reckte, konnte man durch die Bäume oben auf dem Felsen ein wenig weiß werdenden Himmel erspähen. Fast alle Bäume waren streng aussehende, duftende Nadelbäume, mit schweren Zweigen, die nicht viel Wuchs darunter aufkommen ließen – kein Wuchern von Ranken und Brombeeren und Schösslingen, wie ich es aus dem Laubwald gewohnt war. Es war mir schon aufgefallen, als ich am Tag zuvor aus dem Zugfenster geschaut hatte – wie das, was wir den »Busch« nannten, sich in richtigen Wald verwandelte, der noch nichts von Üppigkeit und Wirrnis und jahreszeitlichem Wandel wusste. In meiner Vorstellung gehörte dieser richtige Wald nur reichen Leuten – als angemessenes, wenn auch düsteres Erholungsgebiet – und Indianern, die den reichen Leuten als Führer und exotisches Personal dienten und ansonsten irgendwo lebten, wo sie niemandem unter die Augen oder in den Sinn kamen, wo keine Eisenbahn hinfuhr.
    Trotzdem sah ich mich an jenem Morgen gründlich um, neugierig, als sei das ein Ort, an

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