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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Beruhige dich«, sagte Russell. »Du hättest, aber du hast nicht.«
    »Du könntest jetzt tot sein, und ich hätt’s getan.«
    »Hast du aber nicht.«
    »Aber was, wenn doch? O Gott, o Gott. Was, wenn doch?«
    Sie weinte und wiederholte immer wieder etwas in dieser Art, aber mit gedämpfter Stimme, als sei ihr etwas in den Mund gestopft worden.
    Oder als werde sie festgehalten und an etwas gedrückt, an jemanden, der sie trösten und besänftigen wollte.
    Russells Stimme, anschwellend, der Situation Herr werdend, beruhigend.
    »Ist ja gut. Ist alles gut, Süße. Schon gut.«
    Das war das Letzte, was ich hörte. Was für ein merkwürdiges Kosewort für Miriam McAlpin.
Süße
. Dasselbe Wort, das er zu mir gesagt hatte, während unserer Kussorgien. Gebräuchlich genug, aber damals war es mir vorgekommen wie etwas, das ich auflecken konnte, wie ein ganzer Mund voll Zucker. Warum sagte er es jetzt, wo ich doch gar nicht in seiner Nähe war? Und in genau demselben Ton. Genau demselben.
    In die Haare, an das Ohr von Miriam McAlpin.
    Ich stand an der Tür. Ich hatte Angst gehabt, sie zu öffnen, weil das Geräusch vielleicht trotz des Lärms, den die Pferde immer noch veranstalteten, unten zu hören war. Oder weil ich noch nicht begriffen hatte, dass ich hier nicht mehr erwünscht war, dass meine Rolle zu Ende war. Jetzt aber musste ich hinaus. Es war mir egal, ob sie mich hörten. Doch ich glaube nicht, dass sie mich hörten. Ich zog die Tür hinter mir zu, dann rannte ich die Auffahrt und die Straße hinunter. Ich wäre weitergerannt, aber mir wurde klar, dass jemand mich sehen konnte und sich fragen mochte, was los war. Ich musste mich damit zufriedengeben, sehr schnell zu gehen. Es fiel schwer, auch nur einen Augenblick lang stehen zu bleiben, sogar, als ich den Highway überqueren musste, der auch die Hauptstraße der Stadt war.
     
    Ich sah Russell nicht wieder. Er wurde wirklich Soldat. Er fiel nicht im Krieg, und ich glaube nicht, dass er bei der Heilsarmee blieb. In dem Sommer, nachdem das passiert war, sah ich seine Frau – ein Mädchen, das ich vom Sehen aus der Highschool kannte. Sie war zwei Klassen über mir gewesen und abgegangen, um in der Molkerei zu arbeiten. Ich sah sie mit Mrs Craik zusammen, sie war hochschwanger. Beide durchstöberten eines Nachmittags eine Kiste mit Sonderangeboten vor Stedman’s Kaufhaus. Sie sah niedergeschlagen und hässlich aus – vielleicht lag das an der Schwangerschaft, obwohl ich sie schon vorher hässlich gefunden hatte. Oder zumindest unscheinbar und schüchtern. Sie sah immer noch schüchtern aus, wenn auch kaum unscheinbar. Ihr Körper sah elend aus, aber auffallend, grotesk. Und ein Anflug von sexuellem Neid, von Verlangen durchfuhr mich bei ihrem Anblick und dem Gedanken, wie sie in diesen Zustand gelangt war. Diese Hingabe, dieses heftige Verlangen.
    Einige Jahre nach seiner Heimkehr aus dem Krieg erlernte Russell das Tischlerhandwerk, wurde durch diese Arbeit Bauunternehmer und baute Häuser in den ständig größer werdenden Vorstadtsiedlungen rings um Toronto. Das weiß ich, weil er auf einem Ehemaligentreffen der Highschool erschien, offensichtlich zu Wohlstand gelangt, und Witze darüber machte, dass er gar kein Recht hätte, sich einzufinden, da er nie auf die Highschool gegangen sei. Clara, die in Kontakt geblieben war, berichtete mir davon.
    Clara sagte, seine Frau sei jetzt blond, ziemlich dick und habe ein rückenfreies Strandkleid getragen. Einen Dutt aus blonden Haaren, zusammengesteckt über dem Loch in ihrem Sonnenhut. Clara hatte nicht mit ihnen gesprochen und war sich deshalb nicht sicher, ob es dieselbe Ehefrau war oder eine neue.
    Wahrscheinlich war es nicht dieselbe Frau, auch wenn es nicht unmöglich ist. Ich unterhielt mich mit Clara darüber, dass Ehemaligentreffen gelegentlich zum Vorschein bringen, wie jene, die damals am sichersten schienen, vom Leben zusammengestutzt und arg mitgenommen worden sind, und wie jene, die am Rand standen und demütig den Kopf hängen ließen, inzwischen aufgeblüht sind. Das kann auch mit dem Mädchen geschehen sein, das ich vor Stedman’s sah.
    Miriam McAlpin blieb auf dem Pferdehof, bis die Ställe mit der Scheune abbrannten. Ich kenne nicht den Grund, es kann der Übliche gewesen sein – feuchtes Heu, Selbstentzündung. Alle Pferde wurden gerettet, aber Miriam wurde verletzt und lebte danach von einer Invalidenrente.
     
    Alles war normal, als ich an dem Abend nach Hause kam. Das war der Sommer, in dem

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