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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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ihren zwölf Kanonen wie von Enkeln. David Panton hatte eine Frau gehabt, aber keine Familie.
    Einen Priester will der? Wofür? Der alte Haudegen ist doch bekennender Atheist. Während sie das sagte, wechselte Schwester Lea in der Kammer neben der Stationsküche ihre ausgetretenen kalkweißen Gesundheitsschuhe gegen ein Paar noch ausgetretenerer rosa Sandalen. Waren Schuhe ein Abbild ihrer Träger? Die von Schwester Lea hatten etwas Zähes und Enttäuschtes, vor allem um die schief gelaufenen Absätze herum.
    Was kümmern Sie sich denn noch so um den, Salomé, der ist doch schon weg, der alte Panton, sagte sie, den interessiert doch schon nicht mehr, was hier passiert. Mit einem feuchten Finger hob sie einen Krümel von der Fensterbank und steckte ihn in den Mund. Weg ist der, wiederholte sie.
    Wo ist er denn?
    In seiner Zwischenwelt.
    Was macht er dort?
    Mit den ersten Geistern kommunizieren, Verwandte treffen, die bereits vorausgegangen sind, und dabei selber den Tod erwarten. Ohne Panik den Tod erwarten. Sie wurde leiser, genauer und cremte sich die Hände ein.
    Ohne Panik, sind Sie sicher?
    Ja, denn seine Unruhe, die wir wahrnehmen, hat nichts mit Unglück zu tun.
    Womit denn?
    Mit Glück vielleicht, weil der alte Panton sich langsam herausschneidet aus dem Bild seines Lebens, den Kopf durch die Lücke streckt, die so entsteht, und nachschaut, was da noch kommt.
    Was kommt da?
    Nichts, sagte Schwester Lea, nichts. Sie schnappte sich eine Banane aus dem Nachmittagssortiment.
    Schönen Tag noch, Salomé. Übrigens, Zimmer 3 klingelt.
    Den grün gestrichenen Gang lief sie entlang Richtung Hauptausgang Bancroft Road, wo ihr kleines weißes Fahrrad zwischen zwei öffentlichen Aschenbechern auf sie wartete.
    Als Vera in Zimmer 3 den Alarmknopf ausstellte, grinste Mrs.   Lee sie freundlich und ohne Gebiss über die Schulter hinweg an. Mrs.   Lee will einen Tee, summte sie, einen schwarzen. Nein, doch lieber einen weißen. Oder doch lieber Kaffee, aber kalten. Kalter Kaffee macht schön – die Alten. Mrs.   Lee kicherte. Tags zuvor hatte sie Vera beschimpft. Scheiß Königin Victoria, hatte sie gesagt, du Scheißfotze du, biste wieder in den schwarzen Strümpfen unterwegs. In denen haste bestimmt die ganze Nacht gefickt, Fräulein.
    Mit wem denn?, hatte Vera fröhlich gefragt und Mrs.   Lee mit einer Franzbranntweinflasche zugeprostet. Mrs.   Lee hatte zu weinen angefangen. Ein Krächzen, ein Krach, ein eingerosteter Mensch.
    Das ist mein Albert, Fräulein, hatte sie wiederholt, mein Albi, mein Bambi. Den können Sie nicht einfach abtragen, wenn ich ihn noch nicht gegessen habe.
    Als Vera sie jetzt auf die andere Seite umbettete, sagte Mrs.   Lee: Ich liebe dich, meine Süße!
    Ach, Mrs.   Lee, das sind nur die Hormone.
    Welche?
    Die fehlenden.
    Mrs.   Lee lächelte weich und drückte die Wange ins Kissen. Vera rieb ihr den Rücken mit Franzbranntwein ein.
    Ja, die Hormone, sagte sie, oder der Volkstanz.
    Richtig, der Volkstanz ist an allem schuld, Mrs.   Lee. Vera verrieb einen Rest vom Franzbranntwein auf dem eigenen Unterarm.
    Auch daran, dass Frauen jetzt Hosen tragen?
    Nein, daran ist die Studentenbewegung schuld.
    Wer sagt das?
    Mutter Martha.
    Na, die ist ja nun auch schon tot, kicherte Mrs.   Lee, und Vera verließ das Zimmer.
    Vor der Tür blieb sie stehen, die Hände in den Kitteltaschen vergraben. Warum war es eigentlich so wichtig, dass ein Leben immer weiterging? Warum war es schlimm, dass man eines Tages starb? Eigentlich war doch der Tod nicht schlimm. Aus der eigenen Perspektive betrachtet, war er nicht der schlimmste Verlust. War er eigentlich gar kein Verlust, aber einer für die anderen. Für den, der starb, kamen einfach nur die Erfahrungen zum Stillstand. War die Furcht vor dem Tod also nur eine Angst, die Erinnerungen zu verlieren? Oder war es diese Vorstellung davon, eines Tages auf dem Friedhof zu liegen, hier ein bisschen Grün, dort ein bisschen Gelb, allein in einer zugenagelten Holzkiste, die bald feucht und dann zerfressen sein würde, die den Tod unerträglich machte? Was hatte Friedrich am letzten Silvester gesagt, als er überraschend zu ihrem Geburtstag kam und sie vor Karatschs Haus gestanden, geraucht und über die kranke Mutter Martha gesprochen hatten? Wenn man keine Vorstellungsgabe hat, ist der Tod ein Kinderspiel. Hat man aber eine, ist es nicht auszuhalten, hatte er gesagt, und sie hatte ihn erstaunt angesehen. So ernst war Friedrich früher nicht gewesen.
    Vera

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