Wünsche
wussten, dass sie es sagen wollten. Etwas an ihrer Freundschaft war in dem Moment vorbei gewesen. Etwas dauerte nur noch.
7.
Beim Aufwachen bereits hatte Vera sich vor dem Sonntag gefürchtet, als sei sie noch daheim. Die kleine Stadt war fort, die Furcht war geblieben. Sie hatte sich auf die andere Seite des schmalen Bettes in ihrem schmalen Hotelzimmer gedreht und den Regen vor dem Fenster schnelle Schneckenbahnen über das Glas ziehen sehen. Von der Rezeption her drangen Stimmen von Gästen, die ihre Rechnungen bezahlten und fertig zur Abreise waren. Sie fuhren zurück in ihre Heimatorte, die ihnen nach dem Besuch in dieser großen Stadt wieder so behaglich vorkommen würden. Vera hatte sich mit dem rosa Wasserkocher einen Tee gekocht und bald schon das Hotel verlassen.
Die Autos hatten ihre Scheinwerfer eingeschaltet. Sie war die Treppe zur Brücke bei der Station Embankment hinaufgegangen. Oben der Steg war von einem Firnis Wasser überzogen, und die Pfeiler der Brücke hingen am niedrigen Himmel. Waren Hängebrücken immer sofest gemacht? Wahrscheinlich schon. Wenige Menschen liefen von Ufer zu Ufer, die meisten davon Touristen. Als Vera sich weit über das Geländer beugte, herrschte unter ihr eine Flut, die dunkel und mit großer Wucht vorbeiströmte zur Mündung, zum Meer. Zwei Frauen blieben neben ihr stehen. Sie hatten verquollene Gesichter wie Boxer nach einem Kampf oder Kinder nach dem Weinen. Wenn jetzt einer in unsere Themse springt, sagte die eine, dann können sie den in zehn Minuten eine Meile flussabwärts bei Greenwich wieder rausfischen, sagte die andere. Wenn sie ihn noch später finden, sagte die eine, dann hat er meistens schon einen Zusammenstoß mit einem Schiff gehabt, fuhr die andere fort, es fehlt ihm ein Bein, oder die Möwen haben ihm die Augen ausgehackt. Die beiden Frauen gingen weiter. Eine einzelne Seemöwe strich dicht über Vera hinweg und schrie. Go! Da war er ihr entgegengekommen. Der helle Trenchcoat hatte hinter ihm her geweht, während er telefonierte.
Galt sein Lächeln ihr oder der Person am anderen Ende der Leitung? Sie hatte sich ihm in den Weg gestellt. Er zog die Stirn kraus. Zwei steile Falten erschienen über den Augenbrauen.
Kennen wir uns?
Ich habe Sie gleich wiedererkannt.
Sie ging noch einen Schritt auf ihn zu. Dies würde das letzte Mal in ihrem Leben sein, dass sie sich so etwas traute. Unsinn, es war das erste Mal, dass sie sich das überhaupt traute. Mit dem Zeigefinger tippte sie auf einen seiner Mantelknöpfe. Das kam ihr sehr intim vor.
Sie sind überhaupt nicht älter geworden, und wir waren damals fünfzehn und betrunken.
Sind Sie jetzt auch betrunken?
Sie hatte begonnen, an einem Knopf seines Mantels zu drehen. Gleich würde er abreißen und ihre Beute sein. Früher hatte sie in Kaufhäusern Weihnachtsgeschenke für die ganze Familie geklaut, später hatte sie einer Frau den Mann weggenommen, noch später einer Fremden den Ausweis, und kurz darauf einer reichen Frau die Unterarmtasche. Aber dies hier würde ihr gewagtester Raub bisher sein.
Küssen Sie mich!
Wieso?
Sie lieben Ihre Freundin sowieso nicht mehr.
Ich habe gar keine Freundin.
Über ihr und dem Mann in dem hellen Trenchcoat hatte ein bleigrauer Himmel gehangen, der von oben herab zuschaute und sagte, dass es außer diesem Himmel eigentlich nichts gab. Dass die Welt und die Zeit und die Ewigkeit aus Blei waren und damit eigentlich alles gesagt war, was es an diesem Tag zu sagen gab.
Er bot ihr einen Platz auf einem halbrunden Cordsofa an. Im Kamin flackerte ein elektrisches Feuer. Der helle Trenchcoat lag über einer Sessellehne. Auf dem Sims standen die Fotos von Frau und Kindern. Das Radio lief hinter einer schmalen Schiebetür, dort, wo die Küche sein musste. In den Fünfzigerjahren, sagte ein Sprecher, war der beliebteste Name in London James. In diesem Jahr hießen die meisten neugeborenen Jungen Mohammed.
Ich heiße Kennedy, sagte der Mann jetzt, Sean Kennedy. Er hatte auf seinem Kaminsims zwei Lampen mehr angemacht. Eine hellgelb, eine kürbisorange.
Von meinen Töchtern. Wie heißen Sie?
Salomé.
Wie einfach es war, in einem anderen Namen zu verschwinden. Wie einfach es doch war, in einer großen Stadt auf Tauchstation zu gehen. Wenn man sich kaum rührte, hinterließ man auch kaum Spuren. Man konnte sich immer noch in Luft auflösen, selbst im 21. Jahrhundert.
Vorhin, als wir uns begegnet sind, sagte er, da dachte ich auch, ich hätte Sie schon einmal gesehen.
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