Wünsche
Dauerkiffer und Grimme-Preis-Träger, hatte damit eine abendfüllende Fernsehdokumentation über einen verschwundenen Fotografen gedreht. Mit genau der gleichen Kamera würde ab jetzt er, Hannes, einen Film über Haus Wünsche drehen.
Kaufhaus an sich war ein angesagtes Thema.
Über mögliche Titel dachte er lange nach: Emmas Enkel gefiel ihm am Ende am besten. Der Titel fasste die Person Wünsche und dessen modernes Retrokonzept in zwei Wörter, die mit E anfingen, wie Ewigkeit und Enthusiasmus.
Wie machen wir es mit der Finanzierung? Bin ich der Produzent?, hatte Wünsche gefragt, als Hannes ihm beim Joggen den Plan vorstellte. Er hatte sich an die Stange beim Trimm-dich-Pfad neben ihn geschwungen und mehr Klimmzüge gemacht als sonst. Dann war er abgesprungen, um einige Sekunden in der Hocke wie über sich selber gebeugt zu verharren, bis er zu Hannes hochschaute und lachte.
Egal. Versuchen kann man’s ja mal!
Als Hannes sein Rad bei der rosa Villa anschloss, merkte er, irgendetwas war anders als sonst. An der Mauer neben dem Treppenaufgang zur Haustür lehnte ein rotes Rad, ein Sechsundzwanziger, ohne Gangschaltung. Sicher mit Rücktritt. In der Dämmerung, die bald satte Dunkelheit werden würde, gurrte in regelmäßigen Abständen eine Taube, und für einen Moment wünschte er sich, er müsste nicht allein in den Wald hinein. Karatsch möge neben ihm den Hang hinaufschnaufen und ihm oben angekommen auf die Schulter schlagen, lächelnd, aber mit dem Gesicht eines aufgeweichten Brötchens. Oder Wünsche, der joggte, um das Tempo aus dem Leben zu nehmen, liefe neben ihm her, mit der unverschämten Leichtigkeit des jungen Mannes, der er nicht mehr war. Einmal, als Hannes und er im Endspurt und mit dem Zehn-Meter-Turm vom Waldschwimmbad im Visier nebeneinander her gerannt waren, hatte Hannes, euphorisiert von der gemeinsamen Schnelligkeit, gedacht, so muss es sein. Genau so. Plötzlich konnte er sich vorstellen, hier am Ort und bei den neuen Freunden zu bleiben, bis sie die alten Freunde geworden wären. Denn Geborgenheit war auch Glück. Im Glück oder in der Geborgenheit eines kleinen Lebens würde er so einfach verschwunden bleiben für alle Fernsehredaktionen der Welt und deren leere Betriebsamkeit. Denn das Schöne an dieser Welt war ja, dass man in ihr verschwinden konnte. Vera hatte es vorgemacht. Wieder schaute Hannes zur rosa Villa. Ein Fenster war geöffnet, und der leer stehende Bauernhof, drüben auf halbem Hang, roch bis zu ihm herüber nach Mist.
2.
Kommunismus ist Kolchose, sagte Wünsche beim ersten Interview Anfang Mai in die Kamera. Mit beiden Händen fuhr er in die Taschen eines alten Cordjacketts und sah entspannt wie ein Kind zu Hannes herüber, der ihn filmte. Kommunismus und Mitbestimmung, alles Kolchose, mein Lieber, aber Gewinnbeteiligung für die Belegschaft ist etwas ganz anderes.
Geht es auch ein bisschen konkreter? Oder bewegter?
Klar, sagte Wünsche und lief los.
Hannes hinterher. Seine Kamera ließ er dabei auf Kniehöhe über dem Parkett schweben. So würde der Boden rascher als in Wirklichkeit vorüberziehen und ein Eindruck dramatischer Eile entstehen.
Hier, sagte Friedrich, und ging plötzlich rückwärts. Die Ladengrundfläche ist siebzehn Schritte breit und hundertsiebenundsechzig Schritte lang. Als ich Ende letzten Jahres zum ersten Mal wieder herkam, lagen tote Fliegen unter den Verkaufstischen. Es gibt achtundsechzig Steckdosen, ein Festnetztelefon, und manchmal ist der Raum trotz der schweren, alten Heizkörper kalt. Seit Jahresanfang haben wir, meine Schwester Meret und ich, die Fläche wieder aufgeteilt wie zur Zeit unseres Großvaters. Links neben der Drehtür ist die Herrenabteilung, dann kommen die Stoffe, die Bettwäsche, daneben die Gardinen und gegenüber Damenpullover, Miederwaren, Handarbeiten, Kurzwaren.
Er blieb stehen.
Hier, sagte er.
Museum?, fragte Hannes hinter der Kamera.
Nein, aus dem Keller, sagte Friedrich, und sogar signiert von einem polnischer Schreiner im Jahr ’18. Er tippte unter die Tischplatte.
1718?
Nein, 1918, sagte Friedrich.
Der alte Ladentisch war mit grünem Samt bespannt und an den Ecken mit vernickeltem Metall beschlagen. Ein Dutzend flacher Schachteln aus rosa Karton mit dunkelrotem Innenfutter lag darauf. Für Glacéhandschuhe, Wildlederhandschuhe, schwedische Handschuhe mit Norwegermuster und Wunschhandschuhe, sagte Friedrich, wie man sie hier im Haus von Hand anfertigen lassen kann. Reicht das Angebot nicht, oder
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