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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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ihre Chuzpe verliebt?
    Wieder klopfte es gegen eines der Schaufenster von Haus Wünsche.
    Ist wahrscheinlich Reimann, sagte Wünsche.
    Wer ist Reimann?
    Einer, der zu viel allein ist. Das lila Schleifenband lag noch immer neben ihm am Boden. Passt irgendwie, dachte Hannes mit seiner etwas verhängnisvollen Leidenschaft für Bilder. Passt in seiner Verlorenheit.
    Wünsche nahm neben der Milchglasscheibe mit dem Schriftzug KONTOR eine dünne Sperrholzklappe vom Sicherungskasten. Dabei trat er auf das lila Band. Er legte einen Lichtschalter nach dem anderen um.
    So ist das, sagte er, nachts ist Nacht.
    3.
    Solange er denken konnte, hatte er diese fatale Leidenschaft für Bilder gehabt. Trotzdem hatte Hannes nach der mittleren Reife zu seiner Mutter gesagt, ich mach dann mal meinen Abschluss als Maurer und werde später Polier. Er war zur Berufsschule gegangen, zusammen mit Malern, Lackierern, Installateuren, anderen Maurern und Schreinern. Hannes’ Großvater hatte mit seinen zwei Brüdern ein kleines Bauunternehmen gegründet. Sechs Tage die Woche schmissen sie bei jedem Wetter mit Schaufeln Putz an die Wände von neuen und alten Häusern, trugen dabei weiße Unterhemden, mal mit, mal ohne was drüber. Meistens standen sie auf ihrem Gerüst im Freien, nur manchmal fertigten sie in der Werkstatt unten im Haus, das ihnen nicht gehörte, eine Deckenrosette für das Wohnzimmer eines Lehrers an. Sie bekamen Kinder, eins davon war Hannes’ Vater, und als der sehr früh starb, früher als die drei Stuckateure, hatte Hannes das Sterbezimmer, kaum dass der Tote hinausgetragen war, mit einer selbstgebastelten Lochbildkamera fotografiert. Sah man einem Zimmer an, dass dort soeben jemand gestorben war? Hatte sich der Tod als unsichtbare Schrift auf die Dinge gelegt, um kurz dort auszuruhen? Hannes’ Kamera war aus einer Pappschachtel gemacht gewesen. Hinten schob er Fotopapier ein. Die Alufolie davor zerstach er mit einer Nadel, aber nur ein wenig. Fertig! Auf den fünf Bildern, die er so machte, waren weiße Schatten und Geister zu sehen, wegen der langen Belichtungszeiten. Wie viele Dinge waren eigentlich in so einem Ding? Dass etwas blieb, wenn einer ging, konnte jeder sehen, der nicht offenen Auges blind war. Hannes hatte den Bildern vom Sterbezimmer des Vaters zugelächelt und dabei vergessen zu weinen.
    So hatte seine fatale Leidenschaft für Bilder angefangen, lange bevor er mit dem Filmen begonnen hatte.
    Den Mai über drehte Hannes weiter.
    Er begleitete Verkäuferinnen mit der Kamera bei der Arbeit, aber fragte sie nie etwas. Er sammelte Atmosphären, Stimmungen, Leitmotive. Er fing an, eine Kundin im Rollstuhl zu verfolgen, die fast täglich kam. Sie schien sich geborgen zu fühlen im Haus Wünsche. Während sie gleichförmig vor ihm her rollte, fiel ihm auf, dass seinem Projekt etwas fehlte. Gelungene Bilder und deren spätere Montage machten noch keine Geschichte. Es brauchte eine Erzählung? Oder eine Erzählerin? Als tags drauf wieder die Frau mit dem Rollstuhl kam, lief ein Mädchen von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren neben ihr her. Es lächelte ungeniert mit seinen Hasenzähnen, die noch zu groß für das kleine Gesicht waren.
    Eine geborene Darstellerin.
    Vera, dachte Hannes.
    Er rief Meret an.
    Mitspielen?, fragte sie und lachte, klar kann ich das.
    4.
    Die Nacht hatte noch einen Rest Dunkelheit zurückgelassen, als sie auf die Straße traten. Es war Anfang Juni, und die Stadt sah bei diesem Licht wie eine Wohnung aus, die noch keinen neuen Mieter gefunden hat. Vögel in Frühsommerstimmung zwitscherten. Vor Haus Wünsche parkte der silbergraue Volvo von Karatsch, den Hannes für die Szene mit Meret ausgeliehen hatte. Sie stand etwas abseits, gähnte und kratzte sich unter der Achsel, was nicht zum schwarzen Abendkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt passte.
    Hannes schraubte die Kamera auf ein Stativ. Das Lehrmädchen kam mit einer Thermoskanne Kaffee und stand etwas ratlos herum, während Meret endlich wie verabredet in den Volvo stieg und die Straße hinunterfuhr. Kaum war der Wagen um eine Ecke gebogen, blieb die Fahrbahn in einer sanften Breite vor Hannes liegen. Als Hannes sich nach Wünsche umsah, lehnte der an dem Gitter vor der Drehtür, das abends nach Ladenschluss als eiserner Vorhang heruntergelassen wurde. Er hielt die Wolldecke vor dem Bauch. Wahrscheinlich für Meret. Silvester waren sie beide als letzte Gäste nebeneinander zum Bus gegangen, als würden sie sich schon lange kennen.

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