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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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war sie verschwunden?
    Vielleicht hatte sie sich verändert. Warum auch nicht. Die Monate auf dem Schiff hatten ihn, Jo, ebenfalls verändert. Früher hatte er nicht ein Bier herunterbekommen, jetzt trank er zwei am Abend. Vielleicht war Mutter am letzten Silvester auch plötzlich ein Leben leid gewesen, in dem sie jeden kannte, und sie hatte sich eins gewünscht, in dem niemand sie kennt.
    Ob es ihr gut ging, da, wo sie jetzt war?
    Auf jeden Fall.
    In der Nacht bevor sein Schiff wieder in Bremerhaven einlief, schaute Jo aus der Luke seiner Kajüte auf das gewöhnungsbedürftige Schmutzgrau des Meeres und stellte sich vor, er stünde mit seiner Mutter irgendwo auf der Welt, aber bei einem offenen Fenster.
    Geht es dir gut?, fragt er. Sie sagt: Ja, aber ich weiß nicht, ob ich gerade etwas falsch mache. Und er: Weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall regt es die Fantasie an.
    Was?
    Wenn man was falsch macht.
    Sie zündet sich eine Zigarette an.
    Wenn man glücklich ist, sagt sie, weiß man oft nicht, dass man glücklich ist. Aber hinterher weiß man es. Wenn man traurig ist, weiß man immer genau, wie traurig man ist.
    Jo zog sich in seiner Kajüte die Decke über den Kopf. Bald würde es kälter werden. Kaltes Wetter war immer gut für Menschen, die Entscheidungen treffen mussten. Eins war also sicher. Deswegen war Mutter an Silvester und nicht im Sommer, wenn es heiß war, gegangen.
    9.
    Du riechst nach Fischsalat, sagte Karatsch, als Jo nach sieben Monaten auf See am 12.   September vor der Tür des Bungalows stand und diesen teerigen, fauligen und dennoch windfrischen Nebelhauch aus Bremerhaven mitbrachte. Beide freuten sich weniger als erwartet, schlugen einander auf die Schulter, doch eine Umarmung blieb aus. Einmal nur hatten sie von Charleston aus kurz miteinander sprechen können, mit einem geliehenen Handy, denn Jos hatte in der dortigen Shopping-Mall nicht funktioniert.
    Du klingst so anders, hatte Karatsch gesagt.
    Liegt am Handy vom Kollegen aus der Ukraine, hatte Jo geantwortet.
    Kriege ich ein Bier?, fragte er jetzt.
    Nur auf Rezept, Sohn.
    Karatsch schob ihn in die Küche. Bevor Jo dazu kam, am Tisch von den wildesten Häfen der Welt zu berichten, die die Hiroshima angelaufen hatte, oder von jenen Nächten, in denen der Kapitän einsam auf der Brücke Mundharmonika gespielt hatte, die er sich vom iranischen Koch auslieh, welcher sich seinerseits in das Foto eines Mädchens verliebt hatte, das der Dritte Offizier eines Nachts zu lange in den Schein einer Bordlampe hielt, legte Karatsch eine Hand auf Jos Unterarm. Seine Stimme klang eingedickt.
    Wir nehmen Morgen die Fähre nach England, Sohn, ich werde sie gleich noch im Netz buchen, jetzt, wo du da bist. Ich weiß nämlich, wo sie ist.
    Wer?
    Vera.
    Irgendwo im Haus schlug eine Tür. Ein Schweigen folgte und darunter schnell drehende Räder in beiden Köpfen. Jo schaute auf die Uhr. Dann schaute er durch die halb geöffnete Küchentür in die Diele. Garderobenständer, grüner Spannteppich, Schränkchen mit Plastikmadonna und Telefon darauf. Alles noch da.
    Es war kurz vor Mitternacht.
    Letztes Silvester, als Mutter verschwand, war der Tag bis zum frühen Nachmittag schön gewesen. Die Sonne hatte sich warm gezeigt, wenn auch ohne zu wärmen. Der Schnee war bereits in den Tagen zuvor geschmolzen, an denen Karatsch und er wie immer am Ende des Jahres gute Vorsätze gefasst, sich ans Holzhacken für den Kamin gemacht und dabei schon an die Mettbrötchen für die Geburtstagsparty gedacht hatten.
    Sie wohnt bei einem anderen, sagte Karatsch.
    Bist du sicher?
    Ja, und ich mache alles falsch.
    Sicher, dass du alles falsch machst?
    Karatsch nickte. Dann erzählte er.
    Später rief Karatsch Wünsche an. Es war kurz nach Mitternacht. Glückwunsch noch zum Geburtstag, sagte er und verließ mit dem Satz das Zimmer. Jo hörte die Küchenuhr ticken. In Ordnung, sagte Karatsch, als er kurze Zeit später zurückkam, ich buche auch gern die Nachtfähre, wenn das für dich günstiger ist. Hauptsache, du kommst mit.
    Er legte auf.
    Warum kommt Wünsche mit? Will er unbedingt?
    Karatsch zögerte, bis er sagte: Ich will unbedingt, dass er mitkommt.
    Wieso?
    Man muss nicht über alles reden, oder? Er sah grau und verknittert aus, als er das sagte.
    Aber eins schwör ich dir, Sohn, auf der Rückfahrt nehmen wir Muscheln aus Dünkirchen mit.
    Unter dem Satz lag ein anderer: Auf der Rückfahrt nehmen wir Vera mit.
    Gute Nacht, Karatsch.
    Gute Nacht, Sohn.
    Jo nahm den Seesack

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