Wünsche
Luft im Schaufenster stieß sie sie mit dem Fuß einen Spalt auf. Wer hatte denn da unbemerkt eine Tasse Tee auf den Nähmaschinentisch geschoben? Mimi? Irgendein geisterhafter Windowservice? Sie griff nach der Tasse und hielt in der Bewegung inne. Er war noch warm, der Tee, und roch nach Ingwer oder Zitrone.
Hatte es da nicht in ihrem Rücken geklopft?
Hannes? Jetzt schon?
Sie war nicht mal richtig geschminkt, aber drehte sich um.
Die Außenbeleuchtung von Haus Wünsche hatte sich längst angeschaltet. Der warme, staubige Glanz von Abendsonne war vor Stunden bereits übergegangen in etwas Bläuliches, Kaltes, das Düsterkeit verbreitete statt Licht. Draußen vor dem Schaufenster stand eine Frau. Der Stich Rot in ihrem Haar ließ sich nicht richtig erkennen, aber Meret wusste auch so, dass es diesen Erdbeerton gab.
Es gibt alles, was es gibt.
Ich bin’s, sagte Vera lautlos auf der anderen Seite der zerkratzten Schaufensterscheibe mit diesem Mund, der schon immer zu groß für sie gewesen war. Alles kam zurück? Meret sah die ausgeprägte Rotzrinne zwischen Nase und Oberlippe. Solchen Menschen hat in der Wiege bereits ein Engel den Finger fest auf den Mund gedrückt, hatte Stilti Knalles einmal gesagt, damit sie schweigen. Solche Menschen haben ein großes Geheimnis, das sie selber nicht kennen, weswegen sie oft grundlos traurig oder sehr fügsam sind, manchmal aber auch abwesend oder auch ohne Grund aggressiv.
Hau bloß ab, sagte Meret.
Vera und sie, alles kommt zurück. Sie sind acht, sie und Vera, in jenem Sommer, auf jenem Weg zur Gartenlaube, in der ein Mann namens Adler mit seinen zwölf Katzen und dem Bein aus Holz wohnt. Sie haben es eilig, Vera und sie, aber noch eiliger werden sie es haben, von dort wieder fortzukommen. Der Weg führt durch Farn. Sie kriechen durch die Zaunlücke, durch die kein Erwachsener folgen kann. Hand in Hand laufen sie an Brombeerhecken vorbei, die schon zu Adlers Garten gehören, dann über eine Wiese mit Pflaumenbäumen, doch ohne sich um die weißen Blüten im Frühling oder um die blauen Früchte im Herbst zu kümmern. Sie betreten das Holzhaus, mal mit, mal ohne Strickjacke über den Sommerkleidern. Es riecht nach Katzen und meistens auch nach Pfannkuchen, Ei, Zwiebeln, oder was es sonst so bei Adler zu Mittag gegeben hat. Sie zieht als Erste die Strickjacke aus, dann das Kleid über den Kopf. Die Schuhe lassen sie an, denn die Dielen sind schmutzig. Oft stellen sie sich in einen letzten Streifen Sonnenlicht, der durch eine kleine blinde Fensterscheibe wie Staub rieselt, während ihre Kleider, noch in Kindergröße, das eine blau, das andere rot-weiß gestreift, vor ihnen auf den Holzdielen liegen, dort, wo keine Sonne mehr hinkommt. Sie stehen Schulter an Schulter. Vera ist kleiner als sie, und vielleicht deswegen streckt sie, Meret, den Bauch vor, damit es schneller geht. Auf der anderen Seite der Kleider sitzt Adler in dem Teil des Zimmers, in dem immer Schatten wohnt. Er ist nicht hässlich, aber holzig wie sein Bein. Er sitzt im Dunkeln seiner Gier, auf einem schmuddeligen Gobelinsessel. Nach drei oder vier Minuten ist er fertig. Sofort ziehen sie sich wieder an, und sie streckt die Hand aus mit einem breiten Lächeln und schließt sie zur Faust um den Geldschein, den sie beide auf dem Nachhauseweg bei Pizza Schmitza in Pommes rot-weiß und im Salon Venezia in vier Kugeln Erdbeereis umtauschen.
Pizza Schmitza gab es noch. Über dem Eissalon Venezia hatte Karatsch noch immer seine Jazzagentur, obwohl Vera verschwunden war.
Obwohl Vera wieder da war.
Hau ab, sagte Meret erst jetzt, aber merkte, sie freute sich und stand schon auf, trat auf das Pauspapier über den Schnittmusterbogen, stieß sich schon wieder den Kopf an der niedrigen Tür vom Schaufenster zum Verkaufsraum und hatte wenige Herzschläge später den Schlüssel unter der Sperrholzplatte vom Elektroschaltkasten hervorgekramt, um endlich für Vera in die Hocke zu gehen und die Drehtür aufzuschließen. Leise schabten fünf Flügel mit ihren Bürstenkanten am Holzgehäuse entlang.
Entschuldigung, sagte Vera, ich war schon zu Hause, aber da ist keiner.
Sie lächelte und stellte ihre dunkelblaue Sporttasche ab.
Was soll ich machen, ich habe ja nicht einmal mehr einen Schlüssel.
III.
EINES TAGES
1.
Kommen Sie rein, sagt der Mann, den sie noch nicht kennen. Er hat Krähenfüße um die Augen, trägt Ohrring und kurz geschorenes Haar. Breitbeinig und breitschultrig lehnt er in seinem
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