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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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von Vera? Sie setzte sich an den Tisch und fuhr mit einer Hand unter Hannes’ Jacke, zwischen den Brüsten entlang. Fuhr höher und hatte plötzlich eine andere, strengere, sehr anmutige Halslinie unter ihren Fingern, die aus dem verfilzten Kragen einer Strickjacke von der Caritas wuchs und berührt werden wollte. Vera, früher einmal. Meret war der blauen Aderspur mit zwei Fingern gefolgt, hatte die Augen geschlossen und war der Spur mit der Zunge gefolgt, um schließlich zuzubeißen, nur um danach im Mittagslicht und auf dem Heimweg von der Schule in Veras Augen ein stilles, sehr kontrolliertes, aber intensiv leuchtendes Entsetzen zu sehen. Waisenkind, hatte Meret gesagt, Waisenkind. Ach Meret, mein Rettchen, scharf wie Rettich, sagte die Stimme von Stilti Knalles auf dem leeren Küchenstuhl gegenüber und bewegte ihre Oberarme, die die gleiche Farbe und Konsistenz hatten wie die Kekse auf dem Tisch. Ein etwas krümeliges Teiggelb.
    Wieso bist du nur so ein Schwein?, sagte Stilti Knalles. Ich glaube, du bist gar keine richtige Wünsche. Dich haben sie unter dem Rosenbusch gefunden.
    Später, aber nicht viel später, fing Meret an, in den unteren Schubladen des Küchenschranks nach dem alten Weihnachtsschmuck zu suchen. Schließlich war es bereits September. Ein Album aus Leder rutschte ihr entgegen. Sie schlug es auf, und uneingeklebte Fotos fielen heraus. Auf den meisten war sie selber, mal mit, mal ohne Friedrich, mal mit, mal ohne Christbaum oder Hollywoodschaukel, aber immer mit dem gleichen, leicht delirierenden Kinderblick. Hatte sie damals geschielt oder einfach nur ernster dreingeschaut als ihr Bruder? Die älteren Fotos von Urgroßmutter Valerie und Großmutter Eugenie, beide geboren in Westpreußen, waren für die Ewigkeit mit selbstklebenden Fotoecken fixiert. Was für eine Schattenpflanze diese Großmutter Eugenie als Mädchen gewesen war, mit ihren schweren, schwarzen Haaren, die sie auf den meisten Bildern zusammengedreht und von einem riesigen Hornkamm fixiert am Hinterkopf trug. Richtig schön war sie nicht. Ihre Tochter Martha auch nicht. Beide hätten sie nicht konkurrieren können mit den schläfrigen Katzengesichtern ihrer Verkäuferinnen in Haus Wünsche. Aber wer erfolgreich war, musste nicht unbedingt schön sein. Eugenie, einziges Kind von Valerie, übernahm das Geschäft. Martha, einziges Kind von Eugenie, ebenfalls. Lauter Mädchen. Eine richtige Geschäftsfrauendynastie. Meret biss an ihrer Nagelhaut herum, während sie weiterblätterte. Sie hatte nicht einmal einen tüchtigen Mann geheiratet, einen Tuchhändler aus Kratzau in Böhmen, wie die Großmutter, einen Kerl, der ins Geschäft passte und dem einzigen Kind Martha sogar den Namen Wünsche ließ. Aus rein geschäftlichen Gründen. Mutter Martha hatte ihren Mann Manfred auch nicht in der Imbissbude gefunden, sondern per Anzeige in irgendeinem katholischen Blättchen. Manfred, was für ein Name, soll die Großmutter gesagt haben, so heißt man doch nur, wenn man eine Oper ist. Martha war auf den Fotos einen halben Kopf größer als der schöne Manfred, der sich aus seiner Schicht in die Kaste der eingebildeten Wünsches verirrt hatte, um bereits beim Frühstück auf ein Maria-Weiß-Porzellan von Schwiegermutter Eugenie starren zu müssen, das ihn für den Rest seines kurzen Lebens begleiten sollte. Jede zerbrochene Tasse war ersetzbar. Auch seine Kinder Friedrich und Meret hießen Wünsche. Wünsche, wie die Mutter Martha. Wünsche, aus rein geschäftlichen Gründen eben. Auf den letzten Seiten des Lederalbums waren nur wenige Fotos fixiert. Auf einem, an Silvester ’70, steht Manfred mit der Familie von Martha, zu der er nicht gehört, draußen vor Haus Wünsche. Im Hintergrund ist die Drehtür zu sehen. Am linken Bildrand hängen ein paar schwarze Äste vor dem Schneehimmel. Meret, drei, versucht, an Manfred gelehnt, wie ein Storch auf einem Bein zu stehen, und lächelt, als würde sie in der Ferne jemanden erkennen. Wahrscheinlich ihre eigentliche Familie. Wahrscheinlich die von Manfred, wohnhaft in der Nähe eines Rosenbuschs. Friedrich sitzt auf dem Unterarm von Stilti Knalles und lächelt still, als warte er darauf, dass ein Vogel einen Schatten auf sein Gesicht wirft. Es war das letzte Foto mit Manfred. Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben, soll er einige Monate später auf dem Weg ins Krankenhaus geschrien haben, in dem er, noch keine dreißig, als Toter ankam. Mutter Martha war älter als er. In den Jahren danach

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