Wünsche
ran an die Singer. Meret rückte ihren Stuhl dicht an den Nähmaschinentisch. An den Geruch der Sichtrollos würde sie sich gewöhnen, hatte sie beim öffentlichen Schlafen auch. Außerdem stanken sie nicht schlimmer als verschwitzte Matten in der Schule, damals im Turnhallenpavillon, wo die Mädchen die unteren Fensterscheiben mit Pergament- oder Paus- oder Pommestütenpackpapier oder frag mich was verklebten, wegen der Jungen, die aber trotzdem nachmittags feixend mit ihren Mofas beim Eingang herumstanden, genau dort, wo neulich nachts Fräulein Möller den Karatsch gesehen hatte, wie er dort herumstreunte, aber wohl nicht wegen eines Mädchens oder einer Frau. Wegen einer Birke, hatte Fräulein Möller gesagt, fromm ist er geworden. Wahrscheinlich seit dem Verschwinden seiner Vera, hatte sie gesagt, ist er einer Naturreligion verfallen, die unsereins gar nicht kennt. Aber was sollte denn einer wie Karatsch bei einer Birke beten, fragte sich Meret, während sie den Stoff des alten blauen Kleides noch einmal unter der Nadel zurechtschob. Vera, Vera, komm zurück, so wie ein wirklich verzweifelt Zweifelnder auf Knien fleht: Lieber Gott, bitte, bitte sei! War er denn auf Knien?, hatte Meret Fräulein Möller gefragt und sich dabei gedacht, dass die ganze Sache mit Karatsch und dem Baum auch ein Irrtum sein könnte. Möglicherweise hatte er in jener Nacht nur an die Birke beim Schultor gepinkelt. Möglicherweise hatte Fräulein Möller aus Scham nicht richtig hingeschaut und sich ein dunkles Ritual kurz vor dem Morgengrauen vorgestellt. Wer weiß, was in dem Kopf von so einer Kaufhausnonne vorging, die selber nur so fromm war, weil kein Mann sie ein zweites Mal ansah. Vielleicht hatte sie sich sogar etwas noch Unanständigeres vorgestellt. Und, Fräulein Möller, hatte Meret wieder gefragt, hat er?
Was?
Gekniet?
Er stand, hatte Fräulein Möller gesagt.
Meret lachte und drückte ihren Bauch fester gegen die Schublade der Singermaschine und freute sich auf den Abend im Schaufenster, mit dem Rücken zur Welt. Machte Spaß, im Auftrag von Hannes mal etwas Vernünftiges zu tun und sich dabei in aller Öffentlichkeit geborgen fühlen. Spät würden Passanten aus der letzten Kinovorstellung vom Freitag kommen, und irgendwann würde auch Hannes an die Scheibe klopfen. Denn mit dem, was er in der rosa Villa gesagt hatte, hörte nichts auf. Im Gegenteil, etwas begann. Da war sie sich sicher. Möge es sich anfühlen wie Liebe. Meret drehte mit der Hand am Rad. Mit dem Fuß setzte sie den gusseisernen Tritt der alten Singer in Gang. Die Hände übernahmen das Tempo des Fußes. Ja, nähen konnte sie, Nähen machte das Denken leichter und das Leben auch. Nähen war für Meret wie Singen. Singer-Maschine singt mit. I don’t know you / But I want you / All the more for that / Words fall through me / And always fool me / And I can’t react . Meret Wünsche war eine gelernte Schneiderin und staatlich geprüfte Modedesignerin ohne Abitur, aber mit Abschluss an der besten Schule Berlins. Friedrich Wünsche, dem Bruder, wegen dem sie das Herz in den letzten Monaten wieder höher trug, während auf ihm alle Verantwortung lastete, hatte sie zum Geburtstag versprochen, eine Prêt-à-porter-Kollektion für Haus Wünsche zu entwerfen. Wenn sie porter jetzt durch partager ersetzte und wenn sie einfach Secondhand-Klamotten zu Kilopreisen bei Humana und anderen Sozialkaufhäusern erstand, alles einmal in die Waschmaschine, den Trockner und unters Bügeleisen warf, wenn sie dann den ein oder anderen Abnäher änderte oder das ganze Teil wendete, den V-Ausschnitt von vorn als keuschen Blickfang auf den Rücken drehte und mit einer gewagten alten Schnalle in Bauchnabelhöhe oder mit ein paar Knöpfen entlang der Raglan-Naht vom Hals- zum Achselausschnitt behauptete, genau das sei angesagte Mode, dann könnte sie einen dieser Secondhand-Lappen zum ursprünglichen Kilopreis von höchstens 90 Cent am Ende für 98 Euro verkaufen als einmaliges Designerstück, mit dem die Kundin garantiert auch in Bayreuth keine von diesen bösen Überraschungen in den Pausen erleben würde, weil beim Sektholen eine Frau aus München vor ihr und wenige Schritte hinter ihr noch zwei andere stehen, die das gleiche Kleid tragen.
Meret ließ ein neues Garn auf die Spule laufen und biss den Faden mit den Zähnen ab. Sie schaute zur kleinen Tür aus Pressspanplatte, die je nach Dekoration zusammen mit der Rückwand neu tapeziert wurde. Wegen der stickigen
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