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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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floh ihr Kinn immer deutlicher aus dem Gesicht, sagten die Fotos.
    5.
    Keine Stunde später stellte Meret ihr altes rotes Rad neben der Drehtür von Haus Wünsche ab, wo schon lange keine Familienfotos mehr gemacht worden waren. Sie nahm ihre Handtasche und die grüne Jacke von Hannes aus dem Korb und trug wieder einen dunkelblauen, kratzigen Hosenanzug.
    Wie wohl das Wetter in London jetzt war?
    Das Wort SPÄTKAUF leuchtete gelb über den Marktplatz, obwohl die Jalousien von Mimis Lottobude bereits heruntergelassen waren. Nicht ein Auto fuhr, aber ein einzelner Mann kehrte, angezogen wie ein Kellner in weißem Hemd und schwarzen Hosen, zwischen weißen Parkstreifen Herbstlaub. Meret pfiff wie ein Bauarbeiter. Der Mann schaute auf. Es war Nami Main.
    War er kleiner geworden?
    War ihr gestern bei Friedrichs Fest gar nicht aufgefallen.
    Egal, das Feuer in Nami Mains Blick nahm sie nach all den Jahren noch immer persönlich. Ein Schwarm aufgeregter Vögel flog in Höhe ihres Zwerchfells auf, sobald er sie länger als drei Sekunden anschaute. Eine Staffel von fliegenden Teppichen folgte, inschalla.
    Nami Main grüßte mit einer Handbewegung zurück, mit der er auch ein Spinnennetz hätte beseitigen können. Mach mal was Vernünftiges, sagte Meret sich, und ging über den leeren Parkplatz auf ihn zu.
    Glaubst du eigentlich, dass ich jüdisch bin, Mimi?
    Du bist doch nicht einfach jüdisch, nur weil dir ein halbes Kaufhaus gehört, Meret Wünsche. Was fragst du so?
    Magst du Juden?
    Du meinst, weil ich Iraner bin?
    Quatsch, du bist Nami Main, du bist Mimi von hier, früher Punk-Perser, heute Lottobude, sagte Meret, bilde dir bloß nichts Politisches ein.
    Vorsichtig fasste sie an die Manschette seines weißen Hemds und zog.
    Aber kommst du mal mit rüber zu mir, Mimi, bitte?
    Im Sommer waren die Schaufenster sehr heiß, im Winter bitterkalt. Jetzt im Herbst hatten sie eine angenehme Temperatur, doch die Luft auf den knapp vier Quadratmetern blieb abgestanden. Es roch streng nach den Sichtschutzrollos aus den Sechzigerjahren, als Nami Main und sie die schwarze Singermaschine über die Schwelle hievten. Beide stießen sie sich den Kopf an dem niedrigen Türsturz zwischen Schaufenster und Verkaufsraum.
    Bitte andersherum, sagte Meret, als Nami Main die Maschine mit dem Gesicht zur Straße aufstellen wollte, und warte mal hier. Ich hol uns ein Bier.
    Mit der Handtasche unter dem Arm ging sie ins Kontor und schob den Packen Geldscheine zurück ins unterste Fach des Tresors.
    Sag mal Danke, Friedrich, sagte sie laut und dachte an Hannes.
    Als Meret ohne Handtasche, aber mit Bier zurück ins Schaufenster kam, stieß sie sich wieder den Kopf am Türsturz. Nami Main war fort und draußen Nacht. Ein einzelnes Auto auf dem Marktplatz schaltete die Scheinwerfer ein, und ein weißes Männerhemd blitzte in deren Kegel auf, als der Fahrer umständlich wendete. Das Hemd, das musste Nami Main sein, der zurück zu seinem Büdchen ging.
    Sonst war wenig Umgebung auf dem Bild.
    Meret war müde, aber so einen ausrangierten Lappen zum Designerstück umzuarbeiten dauerte vielleicht eine halbe Stunde, rechnete sie aus. Herstellungskosten 25   Euro, wenn die ausführende Schneiderin Auszubildende oder Ausländerin war. Endpreis 75   Euro, vielleicht auch mehr. Damit machte man etwa 200   Prozent Gewinn. Vom Finanziellen hatte sie zwar keine Ahnung, aber vielleicht sollte sie sich darum auch einmal kümmern. Sie fädelte einen blauen Faden in die Nadel der alten Singer-Maschine. Das Kleid von Mutter Martha, ebenfalls blau, mit feinen weißen Streifen an Ärmelnaht und Rocksaum, war von bester Qualität, zeitloser Schnitt, Größe 38/40 und kaum getragen. Die Nadel stach einmal zu.
    Ein Dutzend Schnittmuster lag auf dem Boden und darüber ein Bogen Pauspapier, durchscheinend und hart wie die Pommesspitztüten aus Pergamentersatz in Kneidls Bude. Meret bückte sich und strich das Pauspapier mit beiden Händen glatt. Ein Musterbogen für ein Wickelkleid aus den Achtzigern schien jetzt deutlicher hindurch und sagte mit seinen farbigen Linien, jetzt hier lang. Du machst das und dann das und dann das. Warum hatte sie es eigentlich nicht geschafft, dem Leben ein Schnittmuster vorzulegen? Warum hatte sie ihre Gefühle in keine Form und ihre Furcht in kein Kleid stecken können? Das Blut stieg ihr ins Gesicht, während sie so mit dem Kopf nach unten dasaß. Man könnte ja meinen, sie schämte sich, aber ab jetzt würde alles anders werden. Kopf hoch,

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