Wuestenmond
meine Wohnung sehr; sie machte mich ruhig und zufrieden. Die Wände waren frisch geweißt, die Fenster hoch, und der gut erhaltene Parkettfußboden glänzte wie Bernstein. Es roch nach abgestandener Luft. Ich öffnete beide Fenster, ließ den Geruch des Regens herein; unten brauste und dröhnte der Verkehr. Ich zog meine nassen Sachen aus, wechselte T-Shirt und Hose. Am Eingang hing ein alter, vergoldeter Spiegel vom Flohmarkt. Ich blieb kurz vor ihm stehen, strich die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. Mein Gesicht war feingeschnitten, oval, das Profil merkwürdig stumpfnasig.
Du hast das Gesicht deines Vaters, sagte Olivia immer, dieselbe hohe Stirn, dasselbe schmale Kinn, ein Merkmal der Familie.
Der Mund war weich und voll. Mein Gesicht hatte ich niemals als besonders attraktiv empfunden, auch später nicht, als es hieß, daß mein Lächeln ganz reizend sei. Die Farbe meiner Augen wechselte von Braun zu Gold. Die Brauen waren schräggestellt, die eine war leicht hochgezogen, was meinem Gesicht einen Ausdruck von Zweifel, Zurückhaltung und zugleich Scharfsinn verlieh. Als Kind hatte ich ziemlich stark geschielt und eine Brille tragen müssen, bis sich der Defekt allmählich zurückbildete. Heute ist er ganz verschwunden.
Ich ging an dem Spiegel vorbei, setzte mich an meinen Schreibtisch und schaltete den Computer an. Eine Weile saß ich in Gedanken versunken, legte die Hände in den Schoß und roch den Duft meiner 12
feuchten Haut.
Henri. Ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich war neunzehn Jahre alt gewesen, als wir uns kennenlernten, er zweiundzwanzig. Viel zu jung, meinten die Schwiegereltern, womit sie zweifellos recht hatten. Darüber hinaus war ich ihnen nicht gut genug. Henris Vater war einer der bekanntesten Anwälte Brüssels.
Er war konservativ, aber nicht unbeweglich, und besaß eine ruhige Gelassenheit. Die Mutter kam aus schwerreichem Haus. Ihre Intelligenz war wenig ausgebildet; man tat jedoch gut daran, sie nicht bloßzustellen.
Ich war zur Hälfte Algerierin, daher nicht wirklich vorzeigbar.
Meine Mutter war Lehrerin, der exotische Vater lebte nicht mehr.
Statt eines Vermögens hatten wir Schulden. Derartige Lebensumstände riefen in Henris Kreisen ein Naserümpfen hervor.
Wie auch immer, die Hochzeit fand statt. Henris Eltern machten gute Miene zum bösen Spiel, und auch meine Mutter kam.
Es folgten ein paar Jahre, in denen nichts geschah, außer daß Henri sein Gehalt verbesserte und wir in eine größere Wohnung zogen. Ich beendete mein Studium, entdeckte mein Interesse für das Filmen.
Henri war beschäftigt; er fand gut, was ich machte. Kinder hatten wir keine; wir wollten noch warten, obwohl die Schwiegermutter mit Nachdruck betonte, wir sollten doch endlich eine »richtige Familie«
werden. Mit Henris Karriere ging es steil aufwärts, und damit begann die Zeit der Entfremdung. Die Rolle, die ich an seiner Seite spielen sollte, entsprach mir nicht. Ich war eine Frau, deren Leben im Zeichen der Suche nach einem Ziel stand; alles mögliche konnte dieses Ziel sein, jedoch keine schale Ehe, keine Anpassung. Ich mußte mich Herausforderungen stellen, mich in Prüfungen bewähren. Es gereichte Henri zur Ehre, daß er mich verstand. Er war ein guter Kenner meiner Tiefen, aber gleichzeitig war er – und wußte es – auf übertriebene Art ehrgeizig. Er arbeitete mit Zahlentabellen und Satellitendiensten, seine Zeit wurde knapper, sein Gehalt größer.
Er arbeitete jeden Tag länger und saß auch am Wochenende vor dem Computer. Ich besuchte eine Filmschule, machte ein Volontariat beim Brüsseler Fernsehen. Dabei kam ich mit vielen verschiedenen Menschen zusammen. Zu einem Einordnen in die Gesellschaft brachte ich keine Bereitschaft mehr auf. Den Schwiegereltern paßte das nicht, sie hofften auf das Enkelkind. Ich drehte meinen ersten Werbefilm, gewann eine Auszeichnung und hatte eine kurze Affäre mit einem Schauspieler. Hinter Henri schauten die Frauen her, wenn 13
er mit seinem ironischen Lächeln auf den Lippen von einer Besprechung in die andere ging. Er spürte, daß er eine intensivere Art zu leben suchte. Die Frauen spielten mit. Henri und ich sprachen offen über alles. Es war für uns beide eine emotionale Erfahrung, nach deren Bewältigung wir jedoch nicht noch einmal von vorn anfangen konnten. Henris Eltern schlugen einen merkwürdig rachsüchtigen Ton an. War es nicht so, daß ich kein Kind gewollt hatte? Ach, sie hatten immer gesagt, daß ich für ihren Sohn
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