Wuestenmond
Tagesreisen weiter, stößt man erneut auf einen Salzhügel und eine Quelle; dort wohnen Menschen, die Ataranten heißen. Und schließlich, abermals zehn Tagesreisen weiter, befinden sich wieder ein Salzhügel und eine Quelle. Dort wohnen die Atlanten, die ihren Namen von dem Berg bekommen haben, den sie bewohnen, und der Atlas heißt. Der ist schmal und an allen Seiten abgerundet, und so hoch, daß man seinen Gipfel nicht sehen kann, denn er ist stets von Wolken verhangen, im Sommer wie im Winter. Und die Bewohner des Landes dort sagen, dies sei die Säule des Himmels. Man sagt, dieses Volk habe keine Träume…«
Ein Frösteln überlief mich. Dieser Satz war der geheimnisvollste von allen. Das muß etwas zu bedeuten haben, dachte ich. Träume sind innere Ablagerungen gesammelter Erfahrungen, Spiele des menschlichen Geistes. Was war los mit den Atlanten? Herodot mochte andeuten, daß etwas mit ihnen nicht stimmte. Verbot ihnen etwas in ihrem Gehirn die Erinnerung? Was hatten sie oder ihre Vorfahren erlebt? Welches Verhängnis? Welche Katastrophe?
Menschen, die ihrer Welt entrissen werden, verschließen ihr Unterbewußtsein. Und wie kam Herodot dazu, um diese Dinge zu wissen? Ich mochte Rätsel; ich war gerne neugierig. Ich neigte zur Zerstreutheit; eine Schwäche, mit der ich mich nicht abfinden wollte.
Die Neugierde disziplinierte mich, fesselte mich an den Punkt, an dem ich zu arbeiten hatte.
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3. Kapitel
A m Mittwoch fand das Treffen mit Fantine statt. Sie wohnte Rue St.
Martin, nur ein paar Schritte vom Centre Pompidou entfernt, hoch oben im Gebäude der Ircam, dem Forschungszentrum für Musikproduktion. Ihre kleine Wohnung diente ihr gleichzeitig als Büro. Alles war kombiniert mit kühler Eleganz. Firlefanz lag ihr nicht. Nur wenige Farben – Beige, Weiß, Hellgrau. Und dazwischen Fantine, ganz in Schwarz, mit rotem Haar. Sie trug kirschfarbenen Lippenstift, hatte eine Haut wie Sahne. Sie war siebenundvierzig und ging niemals in die Sonne. Ihr Gesicht, zu knochig, um wirklich schön zu sein, war zu perfekt zurechtgemacht, um nicht aufzufallen.
Wir tranken Kaffee, und Fantine prüfte mein Expose, angemessen kritisch, ihren kleinen Zigarillo in der Hand, ihre Designer-Brille auf der schmalen Nase.
»Was meinst du?« fragte ich.
»Es gefällt dir«, erwiderte sie.
»Mir?«
»Du weißt genau, was ich meine.«
Fantine blickte mich amüsiert an. Ihr Lippenstift glänzte in der Morgensonne. »Wenn dir eine Sache gefällt, wird es ein guter Streifen.«
Ich spürte ein leichtes Flattern in der Brust.
»Das läuft von ganz allein«, sagte ich.
»Wundert dich das?«
Fantines Kaffee war gut. Ich nahm einen großen Schluck.
»Eigentlich kaum. Ich brauche nur anzufangen, mich damit zu befassen.«
Fantine sprach mit leiser Stimme. Den Film konnte sie bei Arte unterbringen. Ohne weiteres. Kein Problem.
»Die Wüste kommt nie aus der Mode. Aber es macht einen großen Unterschied, wenn ausgerechnet du dich mit dem Thema befaßt.«
»Weil mein Vater Algerier war?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Weil du eine Frau bist. Frauen drehen andere Filme als Männer.«
»Stimmt. Warum tun sie das, deiner Meinung nach?«
Sie runzelte die Stirn.
»Ich habe da so meine eigenen Gedanken. Wenn das Publikum nicht weiß, ob der Streifen von einem Mann oder einer Frau gemacht 17
wurde, reagiert es heftiger bei dem Film einer Frau. Immer.
Jedesmal. Er berührt sie tiefer. Ist dir das nie aufgefallen?«
»Im Grunde ja.«
»Siehst du? Filme von Frauen gehen unter die Haut, weil sie ihr eigenes Leben anders und intensiver leben. Und sie sind im Begriff, eine neue Filmsprache zu erfinden. Aber Großproduktionen werden nach wie vor von Männern gedreht. Sensation und Action, du weißt schon, und die Stars ziehen ihr Höschen aus. Na schön.
Pubertierende freuen sich darüber, aber das Publikum hat die Nase voll.«
Ich kannte Fantine seit fünf Jahren und verließ mich stets auf ihr Urteil. Fantine hatte ihre eigene Firma, mit drei Angestellten für den Verwaltungsbereich. Wenn sie ein Projekt anging, stellte sie innerhalb weniger Tage das entsprechende Team zusammen. Und sie kannte eine Menge Leute, die wichtig waren.
»Die Sahara…« Fantine dachte laut, wobei sie mit ihrem schwarzbeschuhten Fuß wippte. »Jeder glaubt, daß sie bis zum letzten Quadratzentimeter erforscht wurde. Warum wurde das Gelände jetzt erst neu entdeckt?«
Die Antwort konnte ich ihr geben.
»Die Dünen bewegen sich mit dem Wind, die Wüste
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