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Wuestenmond

Wuestenmond

Titel: Wuestenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Stammbaum als vielmehr ein Gestrüpp dar. Die Ibaggaren – die Hoggar-Tuareg –
    waren hochmütig, eigenwillig und dominierend. Ihre soziale Ordnung entsprach noch bis vor kurzem Europas mittelalterlichen Hierarchien. Für die einen galten sie als Verkörperung des Edelmutes, für die anderen als Ausbeuter der übelsten Sorte. Wie dem auch sei, Algerien wurde unabhängig, und nach Sidi Beys Tod zerbröckelte das System. Natürlich nicht von heute auf morgen. Der Niedergang erfolgte heimtückisch und schleichend. Es war eine langsame Erosion, die das Volk seiner Lebenskräfte beraubte, unausweichlich in die Hoffnungslosigkeit trieb – und von dort in den Tod und ins Nichts. Das war zumindest Olivias Meinung. Sie quälte sich mit dem Gedanken, daß ich nie die Welt kennen würde, die sie gekannt hatte.
    Olivia behielt ihre Klasse knapp ein Jahr, dann kündigte man ihr die Stelle. In algerischen Volksschulen sollte die Unterrichtssprache in Zukunft Arabisch sein, was Olivia als eine logische Entwicklung ansah, die Tuaregkinder jedoch in Schwierigkeiten stürzte. Die wenigsten von ihnen konnten Arabisch, während Französisch ihnen 20
    zumindest vertraut war. Über hundert Jahre Kolonialzeit hinterlassen im Sprachgebrauch Spuren.
    »Und wie alt warst du, als dein Vater starb?«
    »Ungefähr vier. Ich weiß kaum noch, wie er aussah.«
    »Und deine Mutter?«
    »Sie wurde im Frühjahr pensioniert. Jetzt gibt sie Geigenstunden.«
    Ich wuchs heran, die Erinnerungen verblaßten. Mit Henri hatte ich kaum darüber sprechen können. Er hörte zerstreut zu, zeigte nachsichtiges Interesse. »Es tut mir leid für die Tuareg«, sagte er, und das war’s schon. Und ich? Es lag nicht in meiner Natur, mich zu fragen, wer ich war. Noch hatte die Vergangenheit für mich keine tiefere Bedeutung. Vielleicht war es für Olivia anders, und ich hatte nur das Geheimnis nicht begriffen. Vielleicht sollte ich sie beneiden.
    »Liebesgeschichten sind Opium für die Frauen…«, Fantine blickte verstohlen auf die Uhr. »Und danach?«
    »Ach, ich weiß nicht mehr. Es war alles ziemlich konfus.«
    Nach ihrer Heirat galt Olivia als Algerierin, obwohl sie vorsichtshalber ihre belgische Staatsangehörigkeit behalten hatte.
    Auch nach dem Tod meines Vaters fuhr sie mehrmals mit mir zu den Großeltern. Sie wollte, daß diese ihr Enkelkind sahen. Später wurden die Besuche seltener. Den afrikanischen Staaten – Algerien, Niger, Mali – waren die Nomaden schon lange ein Dorn im Auge.
    Maßnahmen wurden ergriffen, um die Tuareg seßhaft zu machen.
    Dies lief ihrer Natur völlig zuwider; die Nomaden konnten zwar in Städten wohnen, aber nicht dort leben. Es kam zu Aufständen. Die Tuareg waren nie sanfte Schäfer gewesen, sondern – wenn es darauf ankam – phantastische Kämpfer, aber Hunger und Leid hatten sie geschwächt. Die Schwarzen setzten das Gemetzel der Weißen fort, sie hatten ihre Lektion gut gelernt und zogen mit Panzern und Maschinengewehren in die Schlacht. Die Überlebenden deportierte man in Müllcontainer. Meine Mutter wollte kein Risiko eingehen.
    Sie blieb Algerien fern.
    »Kannst du dich noch entsinnen, wie es war?«
    Fantine zeigte jetzt echte Teilnahme, und ich fragte mich, warum ich dabei Traurigkeit empfand.
    »Nein. Meine Erinnerungen verschwimmen zu sehr. Olivia sprach gelegentlich davon. Vieles war für mich ganz unverständlich.«
    »Du hättest ja fragen können.«
    »Die Stämme wurden vertrieben oder in Lager gesteckt, ganze Familien ausgerottet. Das ging mir unter die Haut, verstehst du? Ich 21
    wollte mich von alldem distanzieren. Ich bat Olivia, mich nicht zu beteiligen.«
    »Ja«, sagte Fantine, »das kann man machen, als Trick.«
    Kinder sehen die Welt ohne Staunen. Ich wunderte mich damals nicht, daß meine Großeltern in einer Welt lebten, die so ganz anders war als meine Welt. Mir kam nichts außergewöhnlich vor: weder die Dünenkämme, noch die Berge, noch die Farbe der Häuser, nichts.
    Erst später, in meiner Erinnerung, wurde mir die Einsamkeit der Landschaft bewußt. Alles stand merkwürdig isoliert: hier ein Bergkegel, dort ein Tal. Der Sand unter den Füßen schien von seidenweicher, lebendiger Bewegung. Wer auf die Wüste blickt, wenn die Sonne hoch steht, verliert jedes Gefühl für Proportionen; ein Stein sieht wie ein Berg aus, ein Berg wie ein Stein. Die Menschen, die mir begegneten, erinnerten mich – ein wenig willkürlich – an gewisse Märchen- oder Filmgestalten, gute oder böse, je nachdem. Sie

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