Wuestentochter
kam ein Schneesturm auf, und sie konnten nichts anderes tun, als sich Wärme suchend zwischen den sich eng an sie schmiegenden Pferden aneinanderzuklammern; ein winziger Kreis von Leben in einer Wildnis aus Stein und Eis. Khalidah bemühte sich verzweifelt, wach zu bleiben, denn sie wusste, dass sie, wenn sie einschlief, höchstwahrscheinlich nie wieder aufwachen würde. Doch endlich wurde sie von ihrer Erschöpfung übermannt, und plötzlich wich der peitschende Schnee sanfter Wärme und Händen, die liebevoll über ihren Kopf strichen. Sie schlug die Augen auf und erhaschte einen Blick auf einen flatternden, mit bunten Blumen und Vögeln bestickten weißen Schal.
»Ummah.« Sie versuchte sich aufzusetzen, doch die Hände drückten sie mit sachter Gewalt zurück. Außer den durchdringenden goldenen Augen konnte sie von Brekhnas Gesicht nichts erkennen, und diese lösten sich im nächsten Moment vor ihr auf, und vor ihr entstand das Bild einer Sandwüste in der Abenddämmerung und einer in eine erbitterte Schlacht verstrickten Armee. Es waren Muslime, das erkannte sie an den mit Koransprüchen bestickten Bannern, und ihre Zahl war so groß, dass sie zunächst dachte, sie würden sich gegenseitig bekämpfen. Dann begann sie inmitten des aufwirbelnden Staubes und des blitzenden Stahls weiße Tuniken mit roten Kreuzen auszumachen - die Kleidung der Tempelritter. Doch die Männer waren alle tot, ihre Leichen wurden unter den Hufen der Pferde ihrer muslimischen Gegner zermalmt.
Einen Moment später erkannte sie, dass auch das nicht ganz zutraf. In der Mitte der riesigen islamischen Armee stand ein christlicher Ritter noch aufrecht; ein junger Mann mit einem Gesicht, das nie einem Soldaten hätte gehören dürfen. Tränen rannen aus seinen braunen Augen in seinen rotbraunen Bart, während er auf die Feinde einhieb, die ihn mit tödlicher Entschlossenheit immer enger umzingelten. Hinter ihm saß ein junger Mann auf seinem Pferd und beobachtete ihn: ein Muslim, der eine blutbefleckte gelbe Tunika über der Rüstung eines Prinzen trug. Sein fein geschnittenes Gesicht war von Kummer und Mitleid gezeichnet. Er sah zu, wie die Soldaten den fränkischen Ritter verhöhnten und seinen Tod absichtlich hinauszögerten, um sich an den Qualen ihres Opfers zu weiden, dabei schlossen sich seine Finger so fest um den Griff seines eigenen blutigen Schwertes, dass die Knöchel weiß hervortraten. Khalidah betete unwillkürlich, dass er sich ein Herz fasste und den sterbenden Ritter erlöste. Als hätte er ihre stumme Bitte gehört, hob der junge Prinz sein Schwert und spaltete dem Franken mit einem mächtigen Hieb, den dieser nie kommen sah, Helm und Schädel. Der Ritter sank leblos zu Boden. Der Prinz riss sein Pferd herum und galoppierte davon, doch Khalidah hatte trotzdem noch die Tränen gesehen, die über sein Gesicht strömten.
Während er in der Ferne verschwand, hörte sie den silbrigen Klang einer na’ay, die eine Melodie spielte, die Khalidah nicht kannte, obwohl sie den bitteren Kummer in ihrem Herzen in Töne zu fassen schien. Nach und nach verhallten die Kampfgeräusche, und das Schlachtfeld versank im Dunkeln, doch die Flötenklänge hielten an, und dann spürte sie Arme, die sie umschlangen, und das Pochen eines Herzens an ihrem Ohr. Sie schlug die Augen auf und stellte fest, dass sie sich eng an Sulaymans Brust schmiegte und die Finger in seinen Mantel gekrallt hatte. Sie erinnerte sich an Schnee und schroffe Felsen, sah jetzt aber nichts davon. Auch die im Abendsonnenschein kämpfende Armee war verschwunden, war einem flackernden Feuer, einem weichen Kissen unter ihr, dem durch ein hohes Fenster scheinenden Mond und einer wohligen, ihren ganzen Körper durchströmenden Wärme gewichen.
»Ich wusste gar nicht, dass du Paschtu sprichst.« Sulayman blickte mit einem Lächeln, das seine Besorgnis nicht ganz verdecken konnte, auf sie hinunter.
»Das tue ich auch nicht.«
»Trotzdem hast du vor ein paar Minuten in deinem Traum ein paar Worte in dieser Sprache gesprochen … oder vielmehr geschrien. Wovon hast du nur geträumt?«
»Frag sie das jetzt noch nicht«, mischte sich eine Männerstimme mit einem Akzent ein, den sie nicht einordnen konnte. Erst jetzt merkte sie, dass die na’ay verstummt war. Sie drehte sich um und sah den Sprecher neben ihrem Lager auf dem Boden sitzen: ein alter, aber immer noch kraftvoller und vitaler Mann, der ein weißes Gewand und einen dunklen Turban trug. In seinem Schoß lag eine
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