Wuestentochter
saßen am Rand der Quelle und hielten die Füße ins Wasser. Salim sah nicht Bilal an, sondern den Granatapfelbusch, von dem scharlachrote Blüten herabrieselten. Bilal brauchte nicht zu fragen, was er meinte: Seit Cresson hatte er an nichts anderes mehr gedacht.
»Ich glaube nicht, dass es eine Frage von Recht oder Unrecht ist«, erwiderte er vorsichtig, dabei stocherte er mit einem Zweig unter seinem Schienenverband herum, um den Juckreiz zu lindern, der ihn ständig plagte. »Es geht um Glauben. Wir handeln nach den Geboten Allahs, so wie die Franken nach denen ihres Gottes handeln. Sowohl wir als auch sie kämpfen um unsere heilige Stadt, nur unglücklicherweise um ein und dieselbe … allbarmherziger Allah!« Der Zweig war abgebrochen, und jetzt musste er versuchen, das unter seinem Verband steckende Stück mit einem anderen Stöckchen herauszuklauben.
Salim streckte sich rücklings im Gras aus, stützte den Kopf auf einen Arm und musterte Bilal nachdenklich. »Das ist nicht ganz das, was ich gemeint habe - oder doch, in gewisser Weise schon …« Er hielt inne. »Uns und den Franken ist dieselbe Stadt heilig, wie du schon sagtest. Aber ist dir nie aufgefallen, dass der Islam und das Christentum - und die Juden, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - so viele gemeinsame Stätten als Heiligtum verehren? Wir sprechen verschiedene Sprachen«, fuhr er so langsam fort, als nähmen die Gedanken erst beim Sprechen in seinem Kopf Gestalt an, »wir und die Franken, und doch meinen wir dieselben Dinge. Schneide uns die Herzen aus dem Leib, und du wirst nicht den geringsten Unterschied feststellen.«
Bilal betrachtete seinen gebrochenen Arm stirnrunzelnd. Es war ihm gelungen, den abgeknickten Zweig unter seinem Verband hervorzufischen, doch es waren ein paar Holzsplitter darunter hängengeblieben, die ihm ohne Zweifel nässende Wunden und eine Strafpredigt des Arztes eintragen würden, wenn die Schiene das nächste Mal gewechselt wurde. Seufzend sah er Salim an.
»Ich habe Jacques de Mailly geliebt«, gestand er. »Offen gestanden war er der erste Mann, in den ich mich verliebt habe. Aber es gibt nicht viele Franken wie ihn.«
»Nein, es gibt überhaupt nicht viele Männer wie ihn«, erwiderte Salim, aber in seiner Stimme schwang keine Bitterkeit mit. »Versteh mich nicht falsch, Bilal. Ich trauere nicht um den Templermarschall, ich mache mir noch nicht einmal mehr Vorwürfe, weil er durch meine Hand gestorben ist. Dennoch verfolgt er mich ständig. Es ist nicht so, als hätte ich plötzlich meine Liebe für die Franken entdeckt, aber ich kann sie jetzt auch nicht mehr hassen. Und ich kann das, was wir ihnen angetan haben, auch nicht länger mit dem Willen Allahs oder einfach nur gerechter Vergeltung entschuldigen, weil …« Wohl wissend, dass er im Begriff stand, eine Blasphemie auszusprechen, dämpfte er die Stimme. »Was, wenn es sich bei den Göttern, in deren Namen wir uns bekriegen, in Wirklichkeit um ein und denselben handelt? Dann wären wir alle keine Ungläubigen, sondern nur zu sehr mit menschlichen Schwächen behaftet, um das zu begreifen.«
Bilal musterte den Freund nachdenklich, und einen Moment lang überkam Salim das seltsame Gefühl, dass dessen Augen kein Teil mehr von ihm waren, sondern kleine Fenster, hinter denen die Unendlichkeit lag.
Endlich sagte Bilal: »Vielleicht hast du Recht, aber ich glaube nicht, dass es etwas ändern würde, selbst wenn die ganze Welt es wüsste, weil es letztendlich gar nicht um Gott geht.«
»Sondern um Macht«, meinte Salim bitter.
»Nein«, widersprach Bilal. »Es geht um die Natur des Menschen. Es liegt nun einmal in unserer Natur, andere zu beherrschen oder von ihnen beherrscht zu werden.«
»Tut es das?«, fragte Salim leise. Der Kummer in seiner Stimme traf Bilal bis ins Mark. Er zog die Füße aus dem Wasser und unter seine Beine. Lange saßen sie schweigend da und beobachteten die kleinen Blüten, die wie Stückchen blutgetränkter Seide auf dem Bach trieben. »Was soll aus uns werden, Bilal?«, flüsterte Salim endlich.
»Ich dachte, du machst dir keine Gedanken um die Zukunft?«
»Das war, bevor mir klar geworden ist, wie viel sich innerhalb eines einzigen Moments ändern kann«, gab Salim zurück.
Bilal dachte kurz nach. »Dann gibt es, scheint mir, nur zwei Möglichkeiten. Wir können bleiben und weiter für deinen Vater kämpfen … oder wir können all das hinter uns lassen und uns einen Ort zum Leben suchen, wo de Mailly nicht hätte
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