Wuestentochter
Gökböris Armee mit der unerschütterlichen Überzeugung angegriffen, die die meisten Christen in Outremer teilten: dass es Gottes Wille und ihre Pflicht war, die Sarazenen aus ihrem Königreich zu vertreiben. So vermochten sie nicht zu begreifen, dass Er ihnen nicht den Sieg geschenkt hatte. Aber sie konnten die Augen nicht vor der verheerenden Niederlage verschließen, die sie erlitten hatten, denn von den fünf hundert Mann, die de Ridefort an jenem Tag in die Schlacht gefolgt waren, war nur der Großmeister allein mit dem Leben davongekommen.
Die Stimmen derer, die darauf hin von Verrat sprachen und ihn verdächtigten, die Ritter bewusst in den Tod geführt zu haben, wären wohl noch erheblich lauter geworden, hätte das Königreich nicht weit dringlichere praktische Probleme zu bewältigen gehabt. Zwar hatten die Burgen Kerak und Shawbak Saladins Truppen getrotzt, doch abgesehen davon war in Oultrej ourdain kaum etwas unversehrt geblieben. Bauernhöfe waren im Stich gelassen, ganze Städte fluchtartig verlassen worden. Die verängstigten Bauern hatten sich in von Muslimen beherrschte Gebiete geflüchtet, um dem Zorn des Sultans zu entgehen. Genau das hatte in Saladins Absicht gelegen, denn ohne Bauern, die Nahrungsmittel produzierten, konnten die Festungen im kommenden Winter einer neuerlichen Belagerung kaum standhalten.
Auf eine so verheerende Katastrophe konnte es nur eine Antwort geben. Ende Mai bot König Guy den Heerbann auf und rief jeden gesunden, freien Christen im Alter zwischen fünfzehn und siebzig zu den Waffen. Dieses eine Mal handelte er nicht auf den Rat anderer hin, sondern traf seine Entscheidung allein, denn sogar ihm war mittlerweile klar, dass ein Krieg mit Saladin nicht mehr zu vermeiden war.
Dank seiner vielen Quellen und den demzufolge üppig wuchernden Wiesen, die den Pferden einer ganzen Armee ausreichend Futter boten, war Tal Ashtara Nuradins bevorzugter Lagerplatz gewesen. Al-Afdhal sah keinen Grund, noch lange nach einem anderen Sammelpunkt Ausschau zu halten. Während Saladin gen Norden ritt, verlagerte sein Sohn seine Armee zu dem neuen Standort südlich von Ras al-Mai. Die Zeltstadt, die rings um die verlassene Stadt aus dem Boden geschossen war, begann zu verschwinden, bis von ihr nichts mehr übrig war als Abfallberge, niedergetrampelte kreisförmige Grasflächen dort, wo die Zelte gestanden hatten, und die Atmosphäre trostloser Verlassenheit, die über alten Ruinen liegt.
In der Zwischenzeit wurden in Tal Ashtara die alten Zelte wieder aufgebaut, und täglich kamen zahlreiche neue hinzu. Es war, als würde sich das Lager von der neuen, fruchtbaren Umgebung nähren. Es wuchs zusehends, weil immer mehr Soldaten mit ihrer Ausrüstung und ihren Pferden herbeiströmten, bis man selbst von einem Belagerungsturm in der Mitte aus die Ränder nicht mehr hätte sehen können.
Salim und Bilal bauten ihr Zelt in der Nähe einer kleinen Quelle im Schatten eines Granatapfelbusches auf, oder vielmehr verrichtete Bilal diese Arbeit allein, während Salim teilnahmslos zuschaute. Seit Cresson hatte er kaum eine Regung gezeigt. Im Laufe der Wochen hatte Bilal den Eindruck gewonnen, als habe sich Salim vom Leben losgesagt; als sei er damals auf dem Schlachtfeld innerlich gestorben. Der Prinz verbrachte seine Tage in drückendem Schweigen, sprach nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, und gestattete Bilal des Nachts zwar, ihn in die Arme zu schließen, lag dann aber steif wie ein Brett da und widersetzte sich jedem von Bilals sanften Versuchen, ihn aus seiner Apathie zu reißen.
Zuerst schien auch die neue Umgebung nichts an seinem Zustand zu ändern. Aber das leise Plätschern des Wassers und die heißen, stillen Tage übten dann anscheinend doch eine beruhigende Wirkung auf ihn aus, und er begann nach und nach zu seinem früheren Selbst zurückzufinden. Zuerst fing er an, seine Umgebung allmählich wieder bewusst wahrzunehmen, dann griff er eines Tages ohne erkennbaren Grund nach Bilals Hand, wobei sich seine eigene kalt anfühlte und zitterte. Bilal ging im Umgang mit ihm mit äußerster Behutsamkeit vor, so wie er einst bei der Zähmung eines jungen Pferdes verfahren war, und achtete sorgsam darauf, nicht mit Überschwang auf die Fortschritte Salims zu reagieren, sondern sie als das Geschenk zu akzeptieren, das sie waren.
Nachdem sie eine Woche in dem neuen Lager zugebracht hatten, fragte Salim unverhofft: »Was, wenn wir diejenigen sind, die sich im Unrecht befinden?«
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