Wuestentochter
kurz und entschied sich dann für ihre eigene Version von Shánfaras Ode. Ihre Stimme hallte in dem gewölbeähnlichen Raum wider, was ihr eine eigentümlich ätherische Note verlieh. Die Mädchen arbeiteten unbeirrt weiter, während sie sang, und nach einer Weile begann Khalidah sich zu entspannen. Als das Lied zu Ende war, dankten sie ihr, und Khalidah stellte überrascht fest, dass sie weder das Unbehagen noch die Ehrfurcht erkennen ließen, die ihr sonst oft entgegenschlugen, wenn sie ein Lied vortrug. Stattdessen begann ein anderes Mädchen zu singen, und so flochten sie weiter an ihren Kränzen, bis Gras und Blumen aufgebraucht waren, und legten sie dann mit ein paar gemurmelten Worten am Fuß des Altars nieder.
Abi Gul wiederholte auf Arabisch: »Mögen eure Geister eure Söhne und Töchter zu Ruhm und Ehre führen.«
Danach verließen die Mädchen den Tempel. Khalidah wandte sich an Abi Gul. »Wird jemand daran Anstoß nehmen, wenn ich noch etwas bleibe?«
»Höchstens Sulayman«, grinste diese.
Nachdem auch Abi Gul gegangen war, kniete Khalidah vor dem Pferdealtar nieder und suchte nach der einen Figur, die sie kaum zu finden hoffen durfte und die doch hier sein musste, dann wenn Brekhna für ihren Stamm tot war, war es ihr Pferd ebenfalls. Plötzlich schob sich ein weiß bekleideter Arm über ihre Schulter und griff zielsicher nach einer kleinen kastanienbraunen Figur. Das Pferd war mitten in der Bewegung dargestellt, Kopf und Schweif trug es stolz erhoben. Khalidah drehte sich um und blickte zu Tor Gul Khan empor.
»Husay«, sagte er, als er ihr die Figur reichte. »Das heißt …«
»Falke«, unterbrach sie. »Ich … ich erinnere mich an ihn.« Tatsächlich war die Erinnerung schlagartig zurückgekehrt. Sie war auf diesem Pferd geritten, oder vielmehr hatte ihre Mutter es geritten und sie dabei in einer Schlinge auf dem Rücken getragen, und sie hatte vor Vergnügen laut gequiekt.
Tor Gul Khan maß sie mit einem nachdenklichen Blick. »Zweifellos, wenn du dich wirklich noch an deine Mutter erinnerst. Sie hat dieses Pferd über alles geliebt. Außerdem würde ich Wetten darauf abschließen, dass in deiner hübschen Stute etwas von seinem Blut fließt.«
Diese Vorstellung war sogar noch beunruhigender als ihre plötzlich zurückgekehrte Erinnerung. Tor Gul Khan kniete sich neben sie und betrachtete den Altar, über den die Pferde im flackernden Licht dahinzugaloppieren schienen. Endlich sagte er: »Du hast dich bislang gut gehalten.«
Khalidah schüttelte den Kopf. »Dazu bestand kein Anlass. Alle hier waren sehr freundlich zu mir.«
»Ich habe nichts anderes erwartet. Aber die Frage bezog sich auf deine Reise, nicht auf die Tage, die du in Qaf zugebracht hast.« Khalidah fragte sich, von wem er wohl Informationen über diese Reise bezogen haben konnte. »Sag mir doch«, fragte er nach einem Moment mit einem Anflug von Humor, »was du von Abi Gul hältst.«
Khalidah lächelte. »Sie ist sehr nett. Und redet wie ein Wasserfall.«
Tor Gul Khan lachte leise. »Sie zeigt auch außergewöhnliches Geschick im Umgang mit dem Bogen.«
»Ich weiß. Ich habe sie auf dem Übungsfeld beobachtet.«
»Sie wird eines Tages eine unserer besten Kriegerinnen sein«, bemerkte Tor Gul Khan nachdenklich. »Wenn sie nicht ihren Überzeugungen zum Opfer fällt.«
Khalidah erschauerte, weil sie ähnlich wie am lange zurückliegenden Vorabend ihrer Hochzeit, kurz bevor ihr ihre Mutter erschienen war, ein bedrückendes Gefühl bevorstehenden Unheils überkam. »Wie meinst du das?«
Tor Gul Khan musterte sie forschend, während der Wind um den steinernen Turm über ihnen heulte und in der Ferne die Schreie eines Raubvogels, Trommelklänge und das Summen einer sitar ertönten.
»Deine Mutter war meine Erbin und sollte meine Nachfolgerin werden«, erwiderte er. »Aber das war nur nebensächlich; verblasste angesichts der Tatsache, dass sie auch eine Nachfahrin von Mobarak Khan war. Als Brekhna sich von den Dschinn lossagte, geriet nicht nur die Erbfolge, sondern auch die natürliche Ordnung von Qaf und seiner Bewohner aus den Fugen.«
»Und du glaubst, mir ist es bestimmt, diese Ordnung wieder herzustellen?«
»Offen gestanden, Khalidah«, erwiderte er mit müdem Ernst, »habe ich nicht die geringste Ahnung.« In seinen Augen las Khalidah mehr Fragen als Antworten, doch ehe sie etwas sagen konnte fuhr er fort: »Weißt du, was ein betaan ist?«
Khalidah schüttelte den Kopf.
»Er oder sie ist ein Prophet. Kein
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