Wunder
Tür.
»Hast du überhaupt eine MetroCard?«, rief Mom hinter mir her.
»Natürlich hat sie eine MetroCard!«, erwiderte Dad, der jetzt richtig wütend klang. »Mein Gott, Momma! Jetzt hör auf, dir so viele Sorgen zu machen. Ciao«, sagte er und küsste sie auf die Wange. »Tschüss, Großer«, sagte er zu August und küsste ihn auf den Kopf. »Ich bin stolz auf dich. Hab einen schönen Tag.«
»Ciao, Daddy! Du auch.«
Dad und ich eilten die Eingangstreppen hinunter und schlugen den Weg zur U-Bahn ein.
»Ruf mich nach der Schule an, bevor du die U-Bahn nimmst!«, rief Mom mir vom Fenster aus nach. Ich drehte mich nicht einmal um, winkte ihr aber kurz zu, damit sie wusste, dass ich sie gehört hatte. Dafür drehte Dad sich um und ging einige Schritte rückwärts.
» Krieg und Frieden , Isabel!«, rief er lächelnd aus, während er auf mich zeigte. » Krieg und Frieden !«
Grundkurs Genetik
Dads Familie stammt zu beiden Seiten von russischen und polnischen Juden ab. Poppas Großeltern flohen vor den Pogromen und kamen zur Jahrhundertwende in New York City an. Tatas Eltern wiederum brachten sich vor den Nazis in Sicherheit und landeten in den Vierzigern in Argentinien. Die beiden lernten sich auf einem Ball in der Lower East Side kennen, als Tata eine Cousine besuchte. Sie heirateten, zogen nach Bayside und bekamen Dad und Onkel Ben.
Moms Seite der Familie kommt aus Brasilien. Abgesehen von ihrer Mutter, meiner wunderbaren Grans, und ihrem Dad, Agosto, der vor meiner Geburt starb, lebt der Rest von Moms Familie – all ihre glamourösen Tanten, Onkel, Nichten und Neffen – immer noch in Alto Leblon, einem noblen Vorort im Süden von Rio. Grans und Agosto zogen in den frühen Sechzigern nach Boston und bekamen Mom und Tante Kate, die mit Onkel Porter verheiratet ist.
Mom und Dad lernten sich an der Brown University kennen und sind seitdem zusammen. Isabel und Nate: unzertrennlich, wie Topf und Deckel. Direkt nach dem College zogen sie nach New York, bekamen mich einige Jahre später und zogen, als ich etwa ein Jahr alt war, in ein Backstein-Townhouse in North River Heights, dem Hippie-Kinderwagen-Zentrum von upper, upper Manhattan.
Keine einzige Person in der exotischen Mischung des Genpools meiner Familie hat jemals irgendein erkennbares Zeichen von dem gezeigt, worunter August leidet. Ich bin grobkörnige Sepia-Fotos von lang verstorbenen Verwandten mit Kopftüchern durchgegangen; Schwarz-Weiß-Schnappschüsse von entfernten Nichten und Neffen in eleganten weißen Leinenanzügen, Soldaten in Uniformen, Damen mit Bienenkorbfrisuren; Polaroids von Teenagern mit Schlaghosen und langhaarigen Hippies, und nicht ein einziges Mal konnte ich auch nur die geringste Spur von Augusts Gesicht in ihren Gesichtern ausmachen. Nicht in einem einzigen. Aber nachdem August zur Welt gekommen war, ließen meine Eltern ihr Erbgut untersuchen. Man sagte ihnen, dass bei August eine »zuvor unbekannte Art des Treacher-Collins-Syndroms« aufgetreten sei, das bei einer autosomal rezessiven Mutation des TCOFI-Gens vorkomme, das auf dem Chromosom 5 liege und zusätzlich kompliziert werde durch eine »hemifaciale Mikrosomie des OAV-Spektrums.« Manchmal treten diese Mutationen während der Schwangerschaft auf. Manchmal werden sie von einem Elternteil vererbt, das das dominante Gen trägt. Manchmal werden sie durch das Zusammenspiel vieler Gene verursacht, möglicherweise in Kombination mit Umweltfaktoren. Dies nennt man multifaktorielle Vererbung. In Augusts Fall waren die Ärzte in der Lage, eine der Einzelnukleotid-Deletionen zu identifizieren, die aus seinem Gesicht ein Schlachtfeld gemacht haben. Das Verrückte ist, auch wenn man es ihnen niemals ansehen würde: Meine Eltern tragen beide dieses mutierte Gen.
Und ich trage es auch.
Das Punnett-Quadrat
Wenn ich Kinder bekommen sollte, besteht eine Wahrscheinlichkeit von eins zu zwei, dass ich das defekte Gen an sie weitergebe. Das heißt nicht, dass sie wie August aussehen würden, aber sie würden das Gen tragen, das bei August in doppelter Form vorhanden ist und dazu geführt hat, dass er ist, wie er ist. Wenn ich jemanden heirate, der dasselbe defekte Gen hat, besteht eine Wahrscheinlichkeit von eins zu zwei, dass unsere Kinder das Gen tragen und vollkommen normal aussehen werden, eine Wahrscheinlichkeit von eins zu vier, dass unsere Kinder das Gen überhaupt nicht tragen werden, und eine Wahrscheinlichkeit von eins zu vier, dass unsere Kinder wie August aussehen
Weitere Kostenlose Bücher