Wunder
werden.
Wenn August Kinder mit jemandem hat, der keine Spur des Gens aufweist, besteht eine hundertprozentige Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder das Gen erben, aber eine Null-Prozent-Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder eine doppelte Dosis davon abkriegen so wie August. Was bedeutet, dass sie das Gen auf jeden Fall tragen werden, dass sie aber vollkommen normal aussehen könnten. Wenn er jemanden heiratet, der das Gen hat, werden seine Kinder dieselben Wahrscheinlichkeiten haben wie meine.
Das erklärt nur den Teil von August, der erklärbar ist. Da gibt es noch diesen anderen Teil seiner genetischen Zusammensetzung, der nicht vererbt ist, sondern einfach nur unglaubliches Pech.
Zahllose Ärzte haben im Lauf der Jahre kleine Tic-Tac-Toe-Raster für meine Eltern gezeichnet, in dem Versuch, ihnen die genetische Lotterie zu erklären. Genforscher benutzen diese Punnett-Quadrate, um Vererbung zu berechnen, rezessive und dominante Gene, Wahrscheinlichkeiten und Risiken. Aber so viel sie auch wissen, es gibt immer noch mehr, was sie nicht wissen. Sie können versuchen, die Wahrscheinlichkeiten vorauszusagen, aber sie können keine Garantien abgeben. Sie benutzen Begriffe wie »Keimbahnmosaik«, »Chromosomen-Translokation« oder »verzögerte Mutation«, um zu erklären, warum ihre Wissenschaft keine exakte Wissenschaft ist. Ich persönlich mag es, wie die Ärzte reden. Ich mag es, wie sich die Wissenschaft anhört. Ich mag es, wie Worte, die man nicht versteht, Dinge erklären, die man nicht verstehen kann. Hinter Begriffen wie »Keimbahnmosaik«, »Chromosomen-Translokation« oder »verzögerte Mutation« verbergen sich zahllose Menschen. Zahllose Babys, die niemals zur Welt kommen werden, so wie meine.
Frischer Wind
Miranda und Ella haben sich abgesetzt. Sie haben sich einer neuen Clique angeschlossen, die an der High School garantiert ganz groß rauskommen wird. Nach einer Woche voll qualvoller Mittagspausen, in denen sie ausschließlich über Leute redeten, die mich nicht interessierten, entschied ich mich zu einem sauberen Bruch. Sie stellten keine Fragen. Ich log ihnen nichts vor. Wir gingen einfach getrennte Wege.
Nach einer Weile machte es mir nicht mal mehr was aus. Allerdings ging ich etwa eine Woche lang nicht in die Cafeteria, um den Übergang leichter zu machen und das heuchlerische Ach, Mist, hier ist gar kein Platz mehr am Tisch, Olivia zu vermeiden. Es war einfacher, in die Bibliothek zu gehen und zu lesen.
Im Oktober wurde ich mit Krieg und Frieden fertig. Es war erstaunlich. Die Leute glauben, es wäre eine so schwere Lektüre, dabei ist es eigentlich bloß eine Seifenopfer mit jeder Menge Figuren, mit Leuten, die sich verlieben, die für die Liebe kämpfen, für die Liebe sterben. Ich möchte eines Tages auch mal so lieben. Ich möchte, dass mein Ehemann mich so liebt, wie Fürst Andrej Natascha liebt.
Irgendwann verbrachte ich dann immer mehr Zeit mit einem Mädchen namens Eleanor, das ich noch aus der Grundschule kannte, auch wenn wir auf verschiedene Middle Schools gegangen waren. Eleanor war schon immer echt klug gewesen – damals noch ein bisschen eine Heulsuse, aber nett. Ich hatte nie bemerkt, wie witzig sie war (nicht zum Schreien komisch wie Dad, aber sie machte jede Menge witzige Bemerkungen), und sie hatte nicht gewusst, wie fröhlich ich sein konnte. Ich nehme an, Eleanor hat immer den Eindruck gehabt, dass ich sehr ernst sei. Und wie sich nun herausstellt, hat sie Miranda und Ella nie gemocht. Sie fand sie eingebildet.
Durch Eleanor bekam ich in der Mittagspause Zutritt zu dem Tisch, an dem die Leute mit Köpfchen sitzen. Es war eine größere Gruppe, als ich es gewohnt war, und hier unterschieden sich auch alle stärker voneinander. Eleanors Freund, Kevin, gehörte dazu, der definitiv irgendwann Schülersprecher werden wird, ein paar Technikfreaks, Mädchen wie Eleanor, die zum Jahrbuch-Komitee und zum Debattierclub gehörten, und ein stiller Typ namens Justin, der eine kleine runde Brille trug und Geige spielte und in den ich mich sofort verknallte.
Wenn ich jetzt Miranda und Ella über den Weg lief, die mit den Super-Angesagten abhingen, sagten wir: »Hey, wie geht’s?«, und gingen weiter. Hin und wieder fragte mich Miranda, wie es August geht, und sagte: »Grüß ihn von mir.« Das tat ich allerdings nie. Nicht weil ich etwas gegen Miranda hatte, sondern weil August in dieser Zeit ganz in seiner eigenen Welt lebte. Es gab Tage, da liefen wir uns zu Hause überhaupt
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