Wunder
schweige für immer«, sagte Dad.
»Alles gut«, erwiderte Mom.
»Schau mal, da ist Justin«, sagte ich zu Dad und zeigte auf Justins Foto im Programm.
»Ein schönes Foto von ihm«, antwortete er und nickte.
»Wie kommt es denn, dass da kein Foto von Via drin ist?«, fragte ich.
»Sie ist die Zweitbesetzung«, sagte Mom. »Aber schau: Hier steht ihr Name.«
»Was heißt denn Zweitbesetzung?«, fragte ich.
»Wow, schau dir mal Mirandas Foto an«, sagte Mom zu Dad. »Ich glaube nicht, dass ich sie wiedererkannt hätte.«
»Warum heißt es Zweitbesetzung?«, wiederholte ich.
»Es heißt so, weil die Zweitbesetzung einspringt, wenn der Schauspieler aus irgendeinem Grund nicht auftreten kann«, antwortete Mom.
»Hast du gehört, dass Martin jetzt wieder heiratet?«, sagte Dad zu Mom.
»Machst du Witze?!«, antwortete Mom, als wäre sie überrascht.
»Wer ist Martin?«, fragte ich.
»Mirandas Vater«, antwortete Mom und sagte dann zu Dad: »Wer hat dir das erzählt?«
»Ich bin Mirandas Mutter letztens in der U-Bahn in die Arme gelaufen. Sie ist nicht glücklich darüber. Er bekommt noch ein Kind und all so was.«
»Wow«, sagte Mom und schüttelte den Kopf.
»Wovon redet ihr denn?«, sagte ich.
»Gar nichts, Auggie Doggie«, antworte Dad.
Ich wollte noch etwas sagen, aber dann gingen die Lichter aus. Das Publikum wurde sehr schnell sehr ruhig.
»Daddy, kannst du bitte damit aufhören, mich Auggie Doggie zu nennen?«, flüsterte ich in Dads Ohr.
Daddy lächelte und nickte und hob den Daumen.
Das Stück begann. Der Vorhang ging auf. Die Bühne war völlig leer, bis auf Justin, der auf einem klapprigen alten Stuhl saß und seine Geige stimmte. Er trug einen altmodischen Anzug und einen Strohhut.
»Dieses Stück heißt Unsere kleine Stadt «, sagte er zum Publikum. »Es wurde verfasst von Thornton Wilder, in Szene gesetzt und produziert von Philip Davenport … Der Name der kleinen Stadt ist Grover’s Corners, im Staate New Hampshire – gleich an der Grenze von Massachusetts: 42 Grad, 40 Minuten nördlicher Breite, 70 Grad, 37 Minuten östlicher Länge. Der erste Akt zeigt einen Tag in unserer Stadt. Es ist am 7. Mai, 1901, Zeit: kurz vor Tagesanbruch.«
Schon in diesem Augenblick wusste ich, dass mir das Stück gefallen würde. Es war nicht wie andere Schulstücke, bei denen ich dabei gewesen war, wie Der Zauberer von Oz oder Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen . Nein, das kam mir ziemlich erwachsen vor, und es fühlte sich total gut an, hier zu sitzen und es mir anzuschauen.
Etwas später im Stück rief eine Figur namens Mrs. Webb nach ihrer Tochter Emily. Ich wusste aus dem Programmheft, dass das die Rolle war, die Miranda spielte, also lehnte ich mich vor, um sie besser sehen zu können.
»Das ist Miranda«, flüsterte Mom mir zu und blinzelte angestrengt Richtung Bühne, als Emily herauskam. »Sie sieht so anders aus …«
»Es ist nicht Miranda«, flüsterte ich. »Es ist Via.«
»Oh mein Gott!«, sagte Mom und rutschte auf ihrem Sitz nach vorn.
»Pst!«, sagte Dad.
»Es ist Via!«, flüsterte Mom.
»Ich weiß«, flüsterte Dad lächelnd. »Pst!«
Das Ende
Das Stück war absolut erstaunlich. Ich will nicht das Ende verraten, aber es ist die Art von Schluss, die die Leute im Publikum total zum Weinen bringt. Mom konnte sich überhaupt nicht mehr halten, als Via-Emily sagte:
»Leb wohl, leb wohl, Welt. Leb wohl, Grover’s Corners … Mama und Papa. Lebt wohl, tickende Uhren und Mamas Sonnenblumen. Und Frühstück und Kaffee. Und frisch geplättete Kleider und warme Bäder … und schlafen und aufwachen. Oh, Erde, du bist zu schön, als dass irgendjemand dich begreifen könnte!«
Via weinte selbst, während sie das sagte. Echte Tränen: Ich konnte sie ihre Wangen hinunterlaufen sehen. Es war total grandios.
Nachdem der Vorhang geschlossen wurde, fingen im Publikum alle zu klatschen an. Dann kamen die Darsteller einer nach dem anderen heraus. Via und Justin kamen als letzte, und als sie auftauchten, erhoben sich alle Zuschauer von ihren Stühlen.
»Bravo!«, hörte ich Dad durch seine Hände rufen.
»Warum stehen alle auf?«, fragte ich.
»Das sind Standing Ovations«, sagte Mom und stand auch auf.
Also erhob ich mich und klatschte und klatschte. Ich klatschte, bis mir die Hände wehtaten. Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie cool es sein musste, in diesem Augenblick Via oder Justin zu sein, während all diese Leute für sie aufstanden und ihnen zujubelten. Ich
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