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Wunder

Wunder

Titel: Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R.J. Palacio
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das Gefühl, als wäre das eine Million Jahre her. Ich nahm meine Hörgeräte ab und legte sie auf meinen Nachtschrank, zog mir die Decke bis zu den Ohren hinauf und stellte mir vor, wie Daisy mit mir kuschelte, wie ihre große, feuchte Zunge mein ganzes Gesicht ableckte, als wäre es ihr liebstes Gesicht auf der ganzen Welt. Und so schlief ich ein.

Im Himmel
     
    Später wachte ich auf, und es war immer noch dunkel. Ich stieg aus dem Bett und ging ins Schlafzimmer von Mom und Dad.
    »Mommy?«, flüsterte ich. Es war vollkommen dunkel, und so konnte ich nicht sehen, ob sie die Augen öffnete. »Mommy?«
    »Alles in Ordnung, Schätzchen?«, fragte sie schläfrig.
    »Kann ich bei euch schlafen?«
    Mom rutschte zu Daddys Seite vom Bett hinüber, und ich kuschelte mich neben sie. Sie küsste mich aufs Haar.
    »Ist deine Hand okay?«, fragte ich. »Via hat gesagt, Daisy hätte dich gebissen.«
    »Sie hat mich nur gezwickt«, flüsterte sie mir ins Ohr.
    »Mommy …« Ich fing an zu weinen. »Es tut mir leid, was ich gesagt habe.«
    »Schhh … dir muss nichts leidtun«, sagte sie so leise, dass ich sie kaum hören konnte. Sie rieb ihre Schläfe sanft gegen mein Gesicht.
    »Schämt sich Via für mich?«, fragte ich.
    »Nein, Schätzchen, nein. Das weißt du doch. Sie lebt sich nur gerade in einer neuen Schule ein. Das ist nicht leicht.«
    »Ich weiß.«
    »Ja, das stimmt.«
    »Tut mir leid, dass ich dich eine Lügnerin genannt habe.«
    »Schlaf jetzt, mein Spatz … ich hab dich so lieb.«
    »Ich hab dich auch so lieb, Mommy.«
    »Gute Nacht, Schätzchen«, sagte sie ganz sanft.
    »Mommy, ist Daisy jetzt bei Grans?«
    »Ich glaube schon.«
    »Sind sie im Himmel?«
    »Ja.«
    »Sehen die Leute aus wie immer, wenn sie in den Himmel kommen?«
    »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.«
    »Wie erkennen sie sich denn dann gegenseitig?«
    »Ich weiß nicht, Schätzchen.« Sie klang müde. »Sie fühlen es einfach. Um jemanden zu lieben, braucht man keine Augen, nicht wahr? Man fühlt es einfach im Inneren. So ist es im Himmel. Da gibt es nur Liebe, und niemand vergisst diejenigen, die er liebt.«
    Sie gab mir noch einen Kuss.
    »Jetzt schlaf ein, Schätzchen. Es ist spät. Und ich bin so müde.«
    Aber ich konnte nicht einschlafen, nicht mal als ich merkte, dass sie eingeschlafen war. Ich konnte Daddy schlafen hören, und ich bildete mir ein, ich könnte sogar Via über den Flur hinweg in ihrem Zimmer schlafen hören. Und ich fragte mich, ob auch Daisy in diesem Moment im Himmel schlief. Und wenn sie schlief, träumte sie dann von mir? Ich überlegte, wie es sich wohl anfühlen musste, eines Tages im Himmel zu sein, wo mein Gesicht keine Rolle mehr spielte. So wie es für Daisy niemals eine Rolle gespielt hatte.

Die Zweitbesetzung
     
    Via brachte ein paar Tage nach Daisys Tod drei Eintrittskarten für ihre Schulaufführung mit nach Hause. Wir erwähnten den Streit beim Abendessen nie wieder. Am Abend der Aufführung, kurz bevor sie und Justin aufbrachen, um rechtzeitig zur Schule zu kommen, gab sie mir eine feste Umarmung und sagte mir, dass sie mich lieb hatte und stolz darauf war, meine Schwester zu sein.
    Ich war zum ersten Mal in Vias neuer Schule. Sie war viel größer als ihre alte, und tausendmal größer als meine. Mehr Flure. Mehr Platz für die Leute. Das einzig wirklich Blöde an meinen bionischen Lobot-Hörgeräten war die Tatsache, dass ich nun keine Baseball-Kappen mehr tragen konnte. In Situationen wie diesen sind Baseball-Kappen nämlich sehr praktisch. Manchmal wünschte ich, ich könnte immer noch damit durchkommen, diesen Astronautenhelm zu tragen, den ich immer aufgesetzt habe, als ich noch klein war. Ob man’s glaubt oder nicht, die Leute finden es weniger merkwürdig, ein Kind mit Astronautenhelm zu sehen als mein Gesicht. Na, jedenfalls hielt ich den Kopf gesenkt, als ich direkt hinter Mom die langen hellen Flure entlangging.
    Wir folgten den Leuten zur Aula, wo Schüler vor dem Eingang Programmhefte verteilten. Wir fanden Plätze in der fünften Reihe, nah am Mittelgang. Und kaum hatten wir uns hingesetzt, begann Mom auch schon in ihrer Handtasche zu wühlen.
    »Ich fasse es nicht, dass ich meine Brille vergessen habe!«, sagte sie.
    Dad schüttelte den Kopf. Mom vergisst immer ihre Brille oder ihre Schlüssel oder irgendwas anderes. Sie ist in dieser Hinsicht echt schusselig.
    »Willst du weiter nach vorn?«, fragte Dad.
    Mom blinzelte zur Bühne hinüber. »Nein, ich sehe ganz gut.«
    »Sprich jetzt oder

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