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Wunder

Wunder

Titel: Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R.J. Palacio
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bring
     
    Ich hatte vergessen, dass ich womöglich noch
    so viele wunderschöne Dinge sehen würde,
    ich hatte vergessen, dass ich womöglich noch
    herausfinden müsste, was das Leben mir geben konnte
     
    Andain, »Beautiful Things«

Ferienlager-Lügen
     
    Meine Eltern ließen sich in dem Sommer, bevor ich in die neunte Klasse kam, scheiden. Mein Vater hatte sofort eine neue Freundin. Und wenn meine Mutter das auch nie ausgesprochen hat, glaube ich eigentlich, dass das der Grund dafür war, dass sie sich haben scheiden lassen.
    Nach der Scheidung sah ich meinen Vater kaum noch. Und meine Mutter führte sich komischer auf denn je. Nicht dass sie instabil gewesen wäre oder so: nur distanziert. Weit weg. Meine Mutter ist die Art Mensch, die dem Rest der Welt ein glückliches Gesicht zeigt, für mich aber nicht viel davon übrig behält. Sie hat nie besonders viel mit mir geredet – nicht über ihre Gefühle, über ihr Leben. Ich weiß nicht viel darüber, wie sie war, als sie so alt war wie ich. Ich weiß nicht viel über die Dinge, die sie mochte oder nicht mochte. Die paar Male, als sie ihre eigenen Eltern erwähnte, die ich nie kennengelernt habe, ging es hauptsächlich darum, dass sie, sobald sie erwachsen war, so weit wie möglich von ihnen wegziehen wollte. Sie hat mir nie erzählt, warum. Ich habe ein paar Mal gefragt, aber dann tat sie immer so, als würde sie mich nicht hören.
    Ich wollte in diesem Sommer nicht ins Ferienlager. Ich hatte bei ihr bleiben wollen, um ihr durch die Scheidung zu helfen. Aber sie bestand darauf, dass ich wegfuhr. Ich nahm an, sie wollte die Zeit für sich allein haben, also gab ich sie ihr.
    Das Camp war schrecklich. Ich hasste es. Ich dachte, es würde besser, wenn man selbst Betreuer war, aber das stimmte nicht. Niemand, den ich vom letzten Jahr kannte, war wiedergekommen, also kannte ich niemanden – nicht eine einzige Person. Ich weiß nicht mal wirklich, warum, aber irgendwann fing ich an, den Mädchen im Camp wilde Geschichten über mich zu erzählen. Sie fragten mich aus, und ich ließ mir einfach irgendwas einfallen: Meine Eltern sind in Europa, erzählte ich ihnen. Ich wohne in einem riesigen Townhouse in der hübschesten Straße von North River Hights. Ich habe eine Hündin namens Daisy.
    Dann platzte ich eines Tages damit heraus, dass ich einen kleinen Bruder hätte, der entstellt ist. Ich habe absolut keine Ahnung, warum ich das gesagt habe: Es schien einfach nur interessant zu sein, das zu erzählen. Und natürlich war die Reaktion, die ich von den kleinen Mädchen im Bungalow bekam, dramatisch. »Echt? Tut uns ja so leid! Das muss hart sein.« Und so weiter und so weiter. Ich bereute es natürlich schon in dem Moment, als es mir herausrutschte: Ich kam mir wie die reinste Betrügerin vor. Wenn Via das je herausfände, würde sie mich für eine totale Irre halten, glaubte ich. Und ich fühlte mich auch wie eine Irre. Aber ich muss zugeben, es gab etwas in mir, das sich zu dieser Lüge irgendwie berechtigt fühlte. Ich kenne Auggie, seit ich sechs Jahre alt war. Ich habe gesehen, wie er aufgewachsen ist. Ich habe mit ihm gespielt. Ich habe seinetwegen alle sechs Star-Wars -Filme angeschaut, damit ich mit ihm über die Aliens und die Kopfgeldjäger und den ganzen Kram reden konnte. Ich habe ihm den Astronautenhelm geschenkt, den er zwei Jahre lang nicht mehr absetzen wollte. Ich meine, irgendwie hab ich mir doch das Recht verdient, ihn mir als meinen Bruder vorzustellen.
    Und das Merkwürdige ist, dass diese Lügen, diese erfundenen Geschichten für meine Beliebtheit wahre Wunder vollbracht haben. Die anderen Junior-Betreuer haben es von den Kindern in den Zelten gehört und kriegten sich gar nicht mehr ein. Niemals in meinem Leben habe ich in irgendeiner Hinsicht zu den angesagten Mädchen gezählt. In diesem Sommer im Camp jedoch, warum auch immer, war ich das Mädchen, mit dem alle abhängen wollten. Sogar die Mädchen aus dem Bungalow 32 fanden mich total toll. Und die waren ganz oben in der Nahrungskette. Sie sagten, sie würden meine Frisur gut finden (auch wenn sie sie veränderten). Sie sagten, sie würden die Art und Weise gut finden, wie ich mich schminke (auch wenn sie die ebenfalls änderten). Sie zeigten mir, wie ich aus meinen T-Shirts Neckholder-Tops machen konnte. Wir rauchten. Wir schlichen uns spät nachts davon und nahmen den Pfad durch den Wald zum Camp der Jungs. Wir hingen mit den Jungs ab.
    Als ich vom Camp nach Hause kam, rief ich sofort

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