Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)
sich verlassen konnte, der dafür sorgte, dass die Situation nicht vollends eskalierte. Wenn alle über die Stränge schlugen, fand er einen Rahmen, in dem er sie halten konnte. Weiß Gott, wie oft sie im Knast gelandet wären, hätte er nicht eingegriffen. Erik war strenggläubig und Selbstmörder kamen nicht in den Himmel. Dazu dieser Leichtsinn, diese Wahnsinnstat mit seiner geliebten Tochter, das ergab einfach keinen Sinn. Je länger er darüber nachdachte, desto schwieriger wurde es, eine plausible Erklärung zu finden.
Mehrmals wandte Nikolas den Kopf zu beiden Seiten, bevor er ausparkte. Dabei spürte er, wie die Barthaare rau seinen Mantel streiften. Er musste aussehen wie ein Höhlenmensch. Daran änderten auch der gute Anzug und der teure Mantel nichts. Es war Zeit, diesem Gefühl, dieser Ahnung nachzugehen. Das Unbehagen, welches sich mehr und mehr in ihm festsetzte, entweder zu beseitigen oder sich einzugestehen, dass er einen seiner besten Freunde nicht so gut kannte, wie er annahm. Als er den Wagen vom Friedhofsgelände steuerte, wurde ihm bewusst, er hätte das, was er jetzt vorhatte, schon vor einigen Monaten tun müssen – sich bei seinen Freunden entschuldigen. Auch wenn es für einige bereits zu spät war.
Seine Erinnerung täuschte ihn nicht. Er musste zwar mitten durch die Stadt, doch die Krankenanstalten fand er sogar nach der langen Abwesenheit. Obwohl sich die Fassade Düsseldorfs in den letzten Monaten sehr gewandelt hatte. Einige Straßenzüge waren kaum wiederzuerkennen, denn etliche Gebäude existierten nicht mehr. Als hätte sie jemand aus der Häuserreihe herausgerissen und nichts übrig gelassen außer einem Haufen Schutt. Als er Düsseldorf verlassen hatte, sah seine Stadt schon schlimm aus. Aber jetzt …
Martin hatte bereits im Studium eine kleine Bleibe in der Nähe der medizinischen Akademie vorgezogen. Das Wohnheim hatte er mittlerweile gegen eine schicke Wohnung im Stadtteil Bilk eingetauscht, wo er mit seiner Familie lebte. Diese Region hatte es besonders schwer getroffen in den vergangenen Tagen. In den Abendstunden, wenn das letzte Sonnenlicht über die Häuserdächer gekrochen war, hörte man nun immer öfter die schrillen Sirenen des Fliegeralarms. Nikolas hoffte, dass das rote Backsteingebäude mit den hohen Fenstern und den verzierten Giebeln nicht von den Bomben zerstört wurde. Mehrmals atmete er durch, als er die Straße unversehrt vorfand.
Einige Zeit verharrte er auf der Türschwelle und ließ den aufkommenden Wind über das erhitzte Gesicht ziehen. Die Kühle des Abends strich beruhigend über seine Haut und sein Gemüt, bis er schließlich die Kraft aufbrachte, die Türklingel zu betätigen.
»Hallo, Doktor.«
Den rundlichen Bauch und den kurzen Borstenhaarschnitt hatte Martin beibehalten. Doch in das vormals fröhlich grinsende Gesicht hatte die Zeit und der Krieg dicke Furchen geschlagen. Im weißen Hemd und mit einfacher grauer Hose bekleidet, ließ er die Hände in die Taschen gleiten.
»Du hast es doch noch geschafft«, entgegnete er ohne Begrüßung und schob die Hornbrille von der Nasenspitze nach oben.
»Ich habe doch gesagt, dass ich komme. Was hat du denn gedacht?«
»Spielt keine Rolle, was ich gedacht habe. Komm rein, ist bitterkalt draußen«, sagte er ungerührt und wies mit einem Nicken in die Wohnung.
Sofort schlug Nikolas wohlig die Wärme entgegen. »Wo sind Miriam und die Kinder?« Er zog seinen Wintermantel aus und warf ihn gemeinsam mit dem Hut über die Garderobe.
»Ich habe sie zu ihren Eltern geschickt. Ein kleines Dorf am Niederrhein, das von den Bombenangriffen hoffentlich verschont bleiben wird. Kannst dir sicherlich vorstellen, dass ich als Arzt nicht einfach gehen kann. Ist schon ein Wunder, dass ich heute hier bin. Normalerweise kommen wir aus dem Operieren gar nicht mehr raus.« Er setzte sich auf das breite Sofa und legte die Hand ans Kinn. Sein Blick schweifte in die Ferne. Dann wurde seine Stimme leise. »Ist wirklich schlimm zur Zeit.«
Kurz begutachtete Nikolas das Wohnzimmer. Die beiden hatten eine Vorliebe für Kitsch und Erinnerungsstücke. So war die Wand vollgestellt mit Regalen, auf denen Nippes fein säuberlich aufgereiht war. Im Hintergrund dudelte der Volksempfänger eine rührselige Musik, jedoch konnte Nikolas an den Staubschichten erkennen, dass Martin seine Frau und die Kinder in weiser Voraussicht schon vor längerer Zeit weggeschickt hatte. Dutzende von Fotos zeigten die Familie. Erinnerungen an
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