Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)
ihm doch unendlich gut, mit Martin Zeit zu verbringen. Erst auf der Straße zwischen Düsseldorf und Leverkusen wurde er ruhiger. Bis jetzt hatten sie zwei Kontrollen passieren müssen. Auch hier leistete ihm sein Ausweis gute Dienste. Nur langsam trauten sie sich in den Ortsteil Opladen. Leverkusen hatte es ähnlich hart getroffen. Große Schutthaufen, die die Menschen aufgehäuft hatten, gehörten zum Stadtbild. Doch genau wie in Düsseldorf waren die Straßen freigeräumt, sodass sie gut befahrbar waren. Bereits von Weitem sahen sie die riesigen Schlote der IG Farbindustrie AG. Wie graue Pfeiler schienen sie den Nachthimmel zu stützen und allein die quellenden Rauchwolken verrieten, dass in diesen Blöcken etwas Menschliches zugegen sein musste. Wie ein riesiges, schlafendes Tier lag der Komplex ruhig an der rechten Rheinseite und verarbeitete stoisch die Materialien, die zu jeder Tages- und Nachtzeit geliefert wurden.
»Die IG Farben ist nun das größte Unternehmen Europas. Aber ihm gehen langsam die Arbeitskräfte aus. Siehst du die Lager auf der anderen Rheinseite?«
Tatsächlich konnte Nikolas Dutzende von Baracken erkennen. Hell erleuchtet und von meterhohen Zäunen und Wachtürmen umgeben, ruhten die flachen Gebäude am Flussufer.
»Der Werkschutz, die SS und SA haben dort Hunderte von Zwangsarbeitern aus dem Osten eingepfercht. Erik hat in den letzten Wochen öfter darüber gesprochen. Die armen Hunde müssen riesige Kautschukkessel mit bloßen Händen reinigen und kommen fast täglich mit den giftigsten Materialien in Berührung. Ich muss dir wohl nicht sagen, was das für Auswirkungen auf den Körper hat. Die IG Farben hat sie außerhalb des Firmengeländes einquartiert.« Martin sah ihn eindringlich an. »Nur ihre Topleute, die wollten sie ganz nah bei sich haben. Haben extra Wohnungen nahe dem Werk in Leverkusen frei räumen lassen.«
Er zeigte Nikolas den Weg aus dem Labyrinth von Fabriken und Werkshallen.
»Möchte gar nicht wissen, wer da vorher drin gewohnt hat«, murmelte er leise gegen die Fensterscheibe, während er die Siedlung nicht aus den Augen ließ. »Ich dachte, dass die meisten freiwillig arbeiten. Kriegsgefangene, die sich ein wenig Geld oder besseres Essen verdienen wollen.«
Als hätte er einen guten Witz gehört, lachte Martin auf. »Glaub doch nicht das, was in der Zeitung steht.«
Er klang so, als würde er einem kleinen Kind erklären, wie man Fahrrad fährt. »Hätte nicht gedacht, dass du so gerne die Augen vor der Realität verschließt. Eine schöne Illusion ist das, der wir uns da hingeben. Erik hat das erkannt. Hat nur noch von so etwas geredet.«
Nikolas’ Gehirn arbeitete auf Hochtouren. »Hat er solche Gedanken laut geäußert?«
Heftig schüttelte Martin den Kopf. »Nein, nie! Er war immer sehr vorsichtig. Selbst mir hat er nicht alles erzählt, aber man konnte sehen, dass ihm das nah ging. Du kennst ihn ja, hat immer etwas von Gott und Gerechtigkeit gefaselt, und dass die gerechte Strafe uns noch treffen würde.«
»Glaubst du das auch?«
Martin wies seinen Freund an, vor einem großen, wenig beleuchteten Haus zu parken. Die kleine Wohnsiedlung am Rande des weitläufigen Werks war gespickt mit Einfamilienhäusern und gepflegten Vorgärten. Gemeinsam gingen sie die Treppe hoch. Bevor Martin die Klingel drückte, hatte er sich doch noch zu einer Antwort durchgerungen. »Ich bin Arzt, Nikolas. Ich glaube an die Wissenschaft und Fakten. Und die Fakten sprechen gegen uns, das ist es, was mir Sorgen macht.«
Hannah öffnete im schwarzen Trauerkleid die Tür. Erst lugte sie unsicher durch einen Spalt, aber als sie die beiden erkannte, fiel sie ihnen um den Hals. Ihre modisch geschnittenen blonden Haare kitzelten Nikolas an der Nase und für einen Moment konnte er ihr süßliches Parfüm riechen.
»Ich hatte gehofft, dass ihr es noch schafft«, hauchte sie. Aus ihrem schmalen Gesicht sprach Dankbarkeit, jedoch verrieten die rötlichen Augen, wie viel sie heute geweint haben musste. Sie führte die beiden ins abgedunkelte Esszimmer, wo vom Leichenschmaus Etliches übrig geblieben war. Auf der einen Seite waren Braten, eine große Käseplatte und verschiedenste Weinsorten aufgereiht. Ein kleines Kärtchen mit der Aufschrift ›IG Farben‹ verriet die Herkunft dieser Köstlichkeiten. Es war übermäßig warm im Raum, sodass Nikolas – neben seinem Wintermantel – auch das Jackett ablegte. Das Haus war beinahe pedantisch aufgeräumt. Hier hatte alles seinen
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