Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)
Aktenordnern und unzähligen Dokumenten, auf denen Bibelverse angekreuzt sind. Auf einmal ist mir warm, so warm, dass ich meine Krawatte löse und den ersten Hemdknopf öffne. Ich trete näher an das Bett heran. Eriks Vater hat den Kopf zur Seite geneigt, doch auch im gelblichen Schein der Kerzen kann ich die Wunden und Blutergüsse gut erkennen. Seine Lippe ist eingerissen und ein dicker Verband ist stramm um seine Stirn gezogen.
»Er braucht Ruhe«, knurrt Martin bestimmt und packt seine Utensilien in den Arztkoffer. Gemeinsam verlassen wir den Raum. Wortlos schleicht Erik über den mit Holz vertäfelten Boden, bis wir sein Schlafzimmer erreichen. Es knarrt, als wir eintreten. Den Blick nicht von seiner Tochter nehmend, legt er sie behutsam in die Wiege. Wir drei sehen in ihr kleines Bettchen. Friedlich liegt sie zwischen Decken und träumt. Süße Marie – ist in eine grausame Umgebung geboren worden, ein Schicksal, das bereits in dem Moment schrecklich zu ihr war, als sie das Licht dieser Welt erblickte. Ihr war nicht einmal das Glück gegeben, ihrer Mutter ein einziges Mal in die Augen zu sehen.
Bevor wir den Raum verlassen, streichele ich über ihre winzige Hand. »Gute Nacht, Marie«, hauche ich zum Abschied leise, dann gehen wir hinunter in die Küche.
Sich die Stirn reibend, lehnt Erik an der Wand. Das Flackern der dicken Kerzen taucht sein Gesicht in ein zuckendes Orange. Ich wünschte, ich könnte ihm etwas Last von seinen Schultern nehmen, und ertappe mich dabei, wie ich abschätze, wie viel ein Mensch ertragen kann, bevor er sich selbst und seine Prinzipien aufgibt. Ich bete, dass sein Herz nicht brechen möge.
»Danke, dass ihr hier seid«, sagt er schließlich grübelnd und öffnet eine Schranktür. Bevor er weiterredet, stellt er drei einfache Gläser auf den Tisch und füllt sie mit Messwein. Die Flüssigkeit ist tiefrot, beinahe schwarz.
»Trinken wir auf dieses Land.« Seine Stimme ist gedämpft. »Trinken wir auf den Verlust der Ordnung und des Gerechten.«
Wir stoßen an und nehmen einen großen Schluck vom bitteren Wein.
Mit einem tiefen Seufzer stellt Martin sein Glas ab. Ich weiß, was er sagen will, wie sehr es in ihm brennt. Er möchte seine Gedanken loswerden, sie aussprechen.
»Erik, tut mir leid, was mit deinem Vater passiert ist. Und du weißt, dass wir immer für dich da sind«, seine Stimme ist weich, trotzdem nervös. Martin zieht die Nase hoch und rückt seine Brille zurecht. »Wir alle hier wissen, welche Predigten dein Vater seit Wochen, ja Monaten, hält. Schläger der SA hatten schon länger angekündigt, ihn aufzusuchen, wenn er weiter gegen den Führer redet. Das ganze Dorf weiß das.«
Erik hatte die ganze Zeit die Augen auf den Boden gerichtet, jetzt treffen sich die Blicke der beiden. »Gegen den Führer redet? Du siehst Hitler also auch so? Als Heilsbringer? Als Retter?«
Erst will Martin etwas entgegnen, dann schließen sich seine Lippen wieder. Für einige Herzschläge legt sich das Tuch des Schweigens über den Raum.
»Du weißt, was ich von Hitler halte«, sagt Martin schließlich. »Er hat uns von den Ketten des Versailler Vertrages gelöst. Hat das Sudetenland ohne Gewalt eingegliedert.«
»Eingegliedert?«, unterbricht Erik. »Ich nenne es annektiert.«
»Nenne es, wie du willst, aber er hat viel Gutes für unser Land getan und es wird keinen Krieg geben, da er versprochen hat, keine territorialen Ansprüche mehr zu stellen. Das war es also, du hattest unrecht.«
Müde lächelnd schüttelt Erik den Kopf. »Du vergisst, welche Gesetze er in der Zwischenzeit erlassen hat. Rassengesetze, die uns Menschen auf einmal in gut und schlecht unterteilen.«
Martins Gesicht nimmt mit jeder Sekunde an Rötung zu. »Du machst es dir zu einfach, Erik.«
»Mache ich das wirklich? Oder ist es dein Wunschdenken, dass ich mich irre und dein Führer sich hoffentlich an seine eigenen Versprechen erinnert?«
Ich lasse meine Freunde reden, nippe an meinem Glas. Erst als ich merke, dass die Stimmung zu kippen droht, erhebe ich entwaffnend die Hände und versuche sie zu beruhigen. »Lassen wir die Politik für einen Moment beiseite.« Eindringlich sehe ich Erik und Martin an, bis sich die Hitze in ihren Gemütern gelegt hat. »Erik, kann dein Vater die Leute beschreiben, die ihn angegriffen haben? Ich könnte eine Fahndung einleiten …«
»Lass es, Nikolas«, unterbricht Erik mich scharf. »Du weißt genau, dass es ein Schlägertrupp der SA war. Haben ihn gewarnt, dass
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