Wunschkonzert: Roman (German Edition)
von sich behaupten? Auch wenn ich nicht ansatzweise so gut verdiene wie in meinem alten Job, muss ich sagen: Ich bin glücklicher. Ausgeglichener. Nicht mehr so verspannt. Von meinem Rücken mal abgesehen, der zwickt nach einer stressigen Schicht manchmal ganz schön.
Außerdem lässt mir die Arbeit genug Zeit für meine Gesangsausbildung an einer privaten Akademie. Und daran habe ich unheimlich große Freude, auch wenn ich mit meinen zweiunddreißig Jahren die absolute Oma unter meinen Mitschülern bin; die anderen sind alle Anfang zwanzig und beäugen mich hin und wieder mit einer Mischung aus Ehrfurcht und schlecht überspielter Überheblichkeit. So jung hätte ich auch mit der Ausbildung anfangen können, wenn ich mich schon früher dazu entschlossen hätte, mir meinen Wunschtraum zu erfüllen. Aber wie heißt es so schön? Besser spät als nie!
Bis vier Uhr nachmittags besuche ich verschiedene Kurse und Klassen, danach ist es Zeit fürs
Café Prima
in der Innenstadt, in dem ich fünfmal die Woche bis Mitternacht kellnere, um nach meiner Schicht tot ins Bett zu fallen. Einschlafprobleme habe ich seitdem nicht mehr, denn es gibt nur noch selten etwas, über das ich stundenlang nachgrübeln muss. Möhrchen ist schon ganz beleidigt, weil er seit Wochen nur noch eine rein dekorative Rolle erfüllt.
An der Akademie habe ich mehr über Musik gelernt als während meiner gesamten Tätigkeit als A&R-Managerin, und wenn ich nächstes Jahr Ende Mai meine Abschlussprüfung ablege, kann ich mit Fug und Recht behaupten: Ich bin stolz auf mich. Mama war im ersten Moment natürlich entsetzt, als ich ihr verkündet habe, dass ich bei World Records ausgestiegen bin. Aber mit der Zeit konnte ich sie davon überzeugen, dass es das Richtige für mich ist und es mir so einfach viel bessergeht. Neulich war sie bei unserem Akademiekonzert, bei dem ich auch gesungen habe – und sie hatte nach meinem Auftritt Freudentränen in den Augen. Das ist doch mal was!
Okay, mein Auto musste ich verkaufen, das wäre finanziell sonst einfach nicht gegangen. Jedenfalls nicht, wenn ich meine Wohnung behalten wollte, und die war mir einfach wichtiger. Meine Mutter hat mir zwar monatliche Unterstützung angeboten, aber ich will das unbedingt allein durchziehen. Was nach meiner Ausbildung kommt, davon habe ich noch keinen blassen Schimmer, aber tatsächlich habe ich es in der Zwischenzeit ganz gut geschafft, Miriams Lebensmotto komplett zu verinnerlichen:
Sorgen mache ich mir dann, wenn es so weit ist.
An mein »altes Leben« denke ich nur noch selten. Einmal im Monat rufe ich Hilde an, und einmal haben wir uns sogar schon auf einen Kaffee getroffen. Das war supernett. Aber sie erzählt mir nichts vom Büro, darauf haben wir uns gleich beim ersten Gespräch verständigt.
Manchmal holt mich die Erinnerung dann aber natürlich doch ein, und nicht nur wenn ich Radio höre und eine »meiner« Bands gespielt wird. Nein, gestern ist noch etwas ganz anderes passiert: Ich habe Post bekommen. Genauer gesagt, eine Postkarte. Ja, genau, die von der Wunschkonzert-Übung aus dem Teambuildingseminar. Sie sah schon ziemlich mitgenommen aus – klar, mein Zwangsaufenthalt in der Lüneburger Heide ist nun auch schon etwas her. Erstaunlich, dass jetzt noch jemand die Karte gefunden und sich die Mühe gemacht hat, sie in einen Umschlag zu stecken und mir zu schicken. Neugierig schaue ich nach, bis wohin es meine Karte geschafft hat.
New York, Rio, Tokio?
Auf dem Umschlag steht eine Adresse in Neuenkirchen. Das ist, wenn ich es richtig im Kopf habe, mehr oder weniger nebenan von Schneverdingen. Etwas enttäuscht bin ich schon. Doch dann lese ich den Brief, den mir der Finder geschrieben und dazugelegt hat.
Liebe Stella Wundermann,
gestern habe ich beim Spazierengehen zufällig Ihre Karte gefunden. Oder besser gesagt: Mein Hund hat sie gefunden, ich selbst drücke mich nicht im Unterholz herum … ☺ Ich weiß nicht, warum Sie diese in die Welt hinausgeschickt haben – aber ich bedanke mich herzlich bei Ihnen dafür, dass Sie es getan haben.
Sie wünschen mir Glück, Gesundheit und ein langes Leben. Das ist – so könnte man meinen – ein typischer Grußkartenspruch, wie ich ihn bisher nie besonders ernst genommen habe. Es ist eben das, was man sagt beziehungsweise schreibt. Eine Worthülse, nicht mehr. Aber wissen Sie was? Ich habe einmal länger drüber nachgedacht. Und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass man sich wirklich nicht mehr im Leben wünschen
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