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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zusammenschrak.
    Den Ehemann vergaß sie, sie drückte das Kind an sich, daß es weinte, verkroch sich im Haus, wo man, nach dem Tod der Brüder, begriffsstutzig aneinander vorbeischaute. Kam denn nichts mehr? Sollte es das schon gewesen sein? Seelenmessen, die Kinderkrankheiten, zugezogene Vorhänge, Briefwechsel mit alten Bekannten aus den unbeschwerten Tagen, Sich-nützlich-machen in der Küche und bei der Feldarbeit, von der man immer wieder weglief, um das Kind in den Schatten zu legen; dann die Sirenen des Ernstfalls, auch schon auf dem Land, das Gerenne der Bevölkerung zu den als Luftschutzbunkern vorgesehenen Felshöhlen, der erste Bombentrichter im Dorf, später Spielplatz und Abfallgrube.
    Gerade die hellichten Tage wurden gespenstisch, und die Umwelt, im lebenslangen täglichen Umgang aus den Kinderalpträumen nach außen geschwitzt und damit vertraut gemacht, geisterte wieder durch die Gemüter als unfaßbare Spukerscheinung.
    Meine Mutter stand bei allen Ereignissen wie mit offenem Mund daneben. Sie wurde nicht schreckhaft, lachte höchstens, vom allgemeinen Schrecken angesteckt, einmal kurz auf, weil sie sich gleichzeitig schämte, daß der Körper sich plötzlich so ungeniert selbständig machte. »Schämst du dich nicht?« oder »Du sollst dich schämen!« war schon für das kleine und vor allem für das heranwachsende Mädchen der von den andern ständig vorgehaltene Leitfaden gewesen. Eine Äußerung von weiblichem Eigenleben in diesem ländlich-katholischen Sinnzusammenhang war überhaupt vorlaut und unbeherrscht; schiefe Blicke, so lange, bis die Beschämung nicht mehr nur possierlich gemimt wurde, sondern schon ganz innen die elementarsten Empfindungen abschreckte. »Weibliches Erröten« sogar in der Freude, weil man sich dieser Freude gehörigst schämen mußte; in der Traurigkeit wurde man nicht blaß, sondern rot im Gesicht, und brach statt in Tränen in Schweiß aus.
    Meine Mutter hatte in der Stadt schon geglaubt, eine Lebensform gefunden zu haben, die ihr ein wenig entsprach, bei der sie sich jedenfalls wohl fühlte – nun merkte sie, daß die Lebensform der andern, indem sie jede zweite Möglichkeit ausschloß, auch als alleinseligmachender Leben sinhalt auftrat. Wenn sie von sich selber sprach, über einen berichtenden Satz hinaus, wurde sie mit einem Blick schon zum Schweigen gebracht. Die Lebenslust, ein Tanzschritt bei der Arbeit, das Nachsummen eines Schlagers, war eine Flause im Kopf und kam einem, weil niemand darauf einging und man damit allein blieb, auch bald selber so vor. Die anderen lebten ihr eigenes Leben zugleich als Beispiel vor, aßen so wenig zum Beispielnehmen, schwiegen sich voreinander auszum Beispielnehmen, gingen zur Beichte nur, um den zu Hause Bleibenden an seine Sünden zu erinnern.
    So wurde man ausgehungert. Jeder kleine Versuch, sich klarzumachen, war nur ein Zurückmaulen. Man fühlte sich ja frei – konnte aber nicht heraus damit. Die anderen waren zwar Kinder; aber man wurde bedrückt, wenn gerade Kinder einen so strafend anschauten.
    Bald nach Kriegsende fiel meiner Mutter der Ehemann ein, und obwohl niemand nach ihr verlangt hatte, fuhr sie wieder nach Berlin. Auch der Mann hatte vergessen, daß er einmal, in einer Wette, auf sie aus gewesen war, und lebte mit einer Freundin zusammen; damals war ja Krieg gewesen.
    Aber sie hatte das Kind mitgebracht, und lustlos befolgten beide das Pflichtprinzip.
    Zur Untermiete in einem großen Zimmer in Berlin-Pankow, der Mann, Straßenbahn-Fahrer, trank, Straßenbahn-Schaffner, trank, Bäcker, trank, die Frau ging immer wieder mit dem inzwischen zweiten Kind zum Brotgeber und bat, es noch einmal zu versuchen, die Allerweltsgeschichte.
    In diesem Elend verlor meine Mutter die ländlichen Pausbacken und wurde eine recht elegante Frau. Sie trug den Kopf hoch und bekam einen Gang. Sie war nun so weit, daß sie sich alles anziehen konnte, und es kleidete sie. Sie brauchte keinen Fuchs um die Schultern. Wennder Mann, nach dem Rausch wieder nüchtern, sich an sie hängte und ihr bedeutete, daß er sie liebe, lächelte sie ihn erbarmungslos mitleidig an. Nichts mehr konnte ihr etwas anhaben.
    Sie gingen viel aus und waren ein schönes Paar. Wenn er betrunken war, wurde er FRECH , und sie mußte STRENG zu ihm werden. Dann schlug er sie, weil sie ihm nichts zu sagen hatte und er es doch war, der das Geld heimbrachte.
    Ohne sein Wissen trieb sie sich mit einer Nadel ein Kind ab.
    Eine Zeitlang wohnte er bei seinen Eltern,

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