Wunschloses Unglück - Erzählung
dann wurde er zu ihr zurückgeschickt. Kindheitserinnerungen: das frische Brot, das er manchmal nach Hause brachte, die schwarzen fettigen Pumpernickel, um die herum das düstere Zimmer aufblühte, die lobenden Worte der Mutter. In diesen Erinnerungen gibt es überhaupt mehr Sachen als Menschen, ein tanzender Kreisel auf einer leeren Ruinenstraße, Haferflocken auf einem Zuckerlöffel, grauer Ausspeisungsschleim in einem Blechnapf mit russischem Markenzeichen, und von den Menschen nur Einzelteile: Haare, die Wangen, verknotete Narben an den Fingern; – die Mutter hatte aus ihren Kindertagen einen mit wildem Fleisch vernarbten Schnitt am Zeigefinger, und an diesem harten Höcker hielt man sich fest, wenn man neben ihr her ging.
Sie war also nichts geworden, konnte auch nichts mehr werden, das hatte man ihr nicht einmal vorauszusagen brauchen. Schon erzählte sie von »meiner Zeit damals«, obwohl sie noch nicht einmal dreißig Jahre alt war. Bis jetzt hatte sie nichts »angenommen«, nun wurden die Lebensumstände so kümmerlich, daß sie erstmals vernünftig sein mußte. Sie nahm Verstand an, ohne etwas zu verstehen.
Sie hatte schon angefangen, sich etwas auszudenken, und sogar so gut es ging danach zu leben versucht – dann das »Sei doch vernünftig!« – der Vernunft-Reflex – »Ich bin ja schon still!«
Sie wurde also eingeteilt und lernte auch selber das Einteilen, an Leuten und Gegenständen, obwohl daran kaum etwas zu lernen war: die Leute, nicht ansprechbarer Ehemann und noch nicht ansprechbare Kinder, zählten kaum, und die Gegenstände standen ohnehin fast nur in den allerkleinsten Einheiten zur Verfügung – so mußte sie kleinlich und haushälterisch werden: die Sonntagsschuhe durfte man nicht wochentags tragen, das Ausgeh-Kleid mußte man zu Hause gleich wieder an den Bügel hängen, das Einkaufsnetz war nicht zum Spielen da!, das warme Brot erst für morgen. (Noch meine Firmungsuhr später wurde gleich nach der Firmung weggesperrt.)
Aus Hilflosigkeit nahm sie Haltung an und wurde sich dabei selbst über. Sie wurde verletzlich und verstecktedas mit ängstlicher, überanstrengter Würde, unter der bei der geringsten Kränkung sofort panisch ein wehrloses Gesicht hervorschaute. Sie war ganz leicht zu erniedrigen.
Wie ihr Vater glaubte sie sich nichts mehr gönnen zu dürfen und bat doch wieder mit verschämtem Lachen die Kinder, sie an einer Süßigkeit einmal mitlecken zu lassen.
Bei den Nachbarn war sie beliebt und wurde angestaunt, sie hatte ein österreichisch geselliges, sangesfreudiges Wesen, ein GERADER Mensch, nicht kokett und geziert wie die Großstadtmenschen, man konnte ihr nichts nachsagen. Auch mit den Russen vertrug sie sich, weil sie sich auf slowenisch mit ihnen verständigen konnte. Sie redete dann viel, einfach alles, was sie an gemeinsamen Worten wußte, das befreite sie.
Aber nie hatte sie Lust auf ein Abenteuer. Dafür wurde es ihr in der Regel zu früh schwer ums Herz; die immer gepredigte, inzwischen verkörperte Scham. Ein Abenteuer konnte sie sich nur so vorstellen, daß jemand von ihr »etwas wollte«; und das schreckte sie ab, schließlich wollte sie auch von niemandem was. Die Männer, mit denen sie später gern zusammen war, waren KAVALIERE , das gute Gefühl, das sie bei ihnen hatte, genügte ihr als Zärtlichkeit. Wenn nur jemand zum Reden da war, wurde sie gelöst und fast glücklich. Sie ließ es nicht mehrzu, daß man sich ihr näherte, es hätte denn mit jener Behutsamkeit sein müssen, unter der sie sich einmal als eigener Mensch gefühlt hatte – aber die erlebte sie nur noch im Traum. Sie wurde ein neutrales Wesen, veräußerte sich in den täglichen Kram.
Sie war nicht einsam, spürte sich höchstens als etwas Halbes. Aber es gab niemanden, der sie ergänzte. »Wir ergänzten uns so gut«, erzählte sie aus ihrer Zeit mit dem Sparkassenangestellten; das wäre ihr Ideal von ewiger Liebe gewesen.
Der Nachkrieg; die Großstadt: ein Stadtleben wie früher war in dieser Stadt nicht möglich. Bergauf und bergab lief man über Schutt durch sie hindurch, um Wege abzukürzen, und mußte doch immer wieder in den langen Schlangen ziemlich hinten stehen, abgedrängt von den zu Ellenbogen verkümmerten, in die Luft schauenden Zeitgenossen. Ein kurzes, unglückliches Lachen, Wegschauen von einem selber, wie die andern in der Luft herum, dabei ertappt, daß man ein Bedürfnis gezeigt hatte wie diese andern, gekränkter Stolz, Versuche, sich doch noch zu behaupten,
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