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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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STIRNSEITEN und GRÜSSTEN ; die Wälder und die Berggipfel SCHMÜCKTEN SICH ; der ländlichen Bevölkerung wurden die geschichtlichen Ereignisse als Naturschauspiel vorgestellt.
    »Wir waren ziemlich aufgeregt«, erzählte die Mutter. Zum ersten Mal gab es Gemeinschaftserlebnisse. Selbst die werktägliche Langeweile wurde festtäglich stimmungsvoll, »bis in die späten Nachtstunden hinein«. Endlich einmal zeigte sich für alles bis dahin Unbegreifliche und Fremde ein großer Zusammenhang: es ordnete sich in eine Beziehung zueinander, und selbst das befremdend automatische Arbeiten wurde sinnvoll, als Fest. Die Bewegungen, die man dabei vollführte, montierten sichdadurch, daß man sie im Bewußtsein gleichzeitig von unzähligen anderen ausgeführt sah, zu einem sportlichen Rhythmus – und das Leben bekam damit eine Form, in der man sich gut aufgehoben und doch frei fühlte.
    Der Rhythmus wurde existentiell: als Ritual. »Gemeinnutz geht vor Eigennutz, Gemeinsinn geht vor Eigensinn.« So war man überall zu Hause, es gab kein Heimweh mehr. Viele Adressen auf den Rückseiten der Fotos, ein Notizbuch wurde erstmals angeschafft (oder geschenkt?): auf einmal waren so viele Leute Bekannte von einem, und es ereignete sich so viel, daß man etwas VERGESSEN konnte. Immer hatte sie auf etwas stolz sein wollen; weil nun alles, was man tat, irgendwie wichtig war, wurde sie wirklich stolz, nicht auf etwas Bestimmtes, sondern allgemein stolz, als Haltung, und als Ausdruck eines endlich erreichten Lebensgefühls; und diesen vagen Stolz wollte sie nicht mehr aufgeben.
    Für Politik interessierte sie sich immer noch nicht: das, was sich so augenfällig abspielte, war für sie alles andere – eine Maskerade, eine UFA -Wochenschau (»Große Aktualitätenschau – Zwei Tonwochen!«), ein weltlicher Kirchtag. »Politik« war doch etwas Unsinnliches, Abstraktes, also kein Kostümfest, kein Reigen, keine Trachtenkapelle, jedenfalls nichts, was SICHTBAR wurde. Wohin man schaute, Gepränge, und »Politik«: war was? – ein Wort, das kein Begriff war, weil es einem schon in denSchulbüchern, wie alle politischen Begriffe, ohne jede Beziehung zu etwas Handgreiflichem, Reellem, eben nur als Merkwort oder, wenn bildhaft, dann als menschenloses Sinnbild eingetrichtert worden war: die Unterdrückung als Kette oder Stiefelabsatz, die Freiheit als Berggipfel, das Wirtschaftssystem als beruhigend rauchender Fabrikschlot und als Feierabendpfeife, und das Gesellschaftssystem als Stufenleiter mit »Kaiser – König – Edelmann / Bürger – Bauer – Leinenweber / Tischler – Bettler – Totengräber«: ein Spiel, das im übrigen nur in den kinderreichen Familien der Bauern, Tischler und Leinenweber vollständig nachgespielt werden konnte.
    Diese Zeit half meiner Mutter, aus sich herauszugehen und selbständig zu werden. Sie bekam ein Auftreten, verlor die letzte Berührungsangst: ein verrutschtes Hütchen, weil ein Bursche ihren Kopf an den seinen drückte, während sie nur selbstvergnügt in die Kamera lachte. (Die Fiktion, daß Fotos so etwas überhaupt »sagen« können –: aber ist nicht ohnehin jedes Formulieren, auch von etwas tatsächlich Passiertem, mehr oder weniger fiktiv? Weniger , wenn man sich begnügt, bloß Bericht zu erstatten; mehr , je genauer man zu formulieren versucht? Und je mehr man fingiert, desto eher wird vielleicht die Geschichte auch für jemand andern interessant werden, weil man sich eher mit Formulierungen identifizierenkann als mit bloß berichteten Tatsachen? – Deswegen das Bedürfnis nach Poesie? »Atemnot am Flußufer«, heißt eine Formulierung bei Thomas Bernhard.)
    Der Krieg, eine Serie mit gewaltiger Musik angekündigter Erfolgsmeldungen aus dem stoffbespannten Lautsprecherkreis der in den düsteren »Herrgottswinkeln« geheimnisvoll leuchtenden Volksempfänger, steigerte noch das Selbstgefühl, indem er die »Ungewißheit aller Umstände vermehrte« (Clausewitz) und das früher täglich Selbstverständliche spannend zufällig werden ließ. Es war für meine Mutter kein die zukünftige Empfindungswelt mitbestimmendes Angstgespenst der frühen Kinderjahre gewesen, wie er es für mich dann sein sollte, sondern zunächst nur das Erlebnis einer sagenhaften Welt, von der man bis dahin höchstens die Prospekte betrachtet hatte. Ein neues Gefühl für Entfernungen, für das, was FRÜHER , im FRIEDEN , war, und vor allem für die einzelnen andern, die sonst nur wesenlose Kameraden-, Tanzpartner- und

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