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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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kläglich, weil man gerade dadurch verwechselbar und austauschbar mit den Umstehenden wurde: etwas Stoßendes Gestoßenes, Schiebendes Geschobenes, Schimpfendes Beschimpftes.
    Der Mund, bis jetzt immer noch wenigstens ab und zuoffengeblieben, im jugendlichen Erstaunen (oder im weiblichen So-Tun-Als-Ob), in der ländlichen Schreckhaftigkeit, am Ende eines Tagtraums, der das schwere Herz erleichterte, wurde in dieser neuen Lebenslage übertrieben fest geschlossen, als Zeichen der Anpassung an eine allgemeine Entschlossenheit, die, weil es kaum etwas gab, zu dem man sich persönlich entschließen konnte, doch nur eine Schau sein konnte.
    Ein maskenhaftes Gesicht – nicht maskenhaft starr, sondern maskenhaft bewegt –, eine verstellte Stimme, die, ängstlich um Nicht-Auffallen bemüht, nicht nur den andern Dialekt, sondern auch die fremden Redensarten nachsprach – »Wohl bekomm’s!«, »Laß deine Pfoten davon!«, »Du ißt heute wieder wie ein Scheunendrescher!« –, eine abgeschaute Körperhaltung mit Hüftknick, einen Fuß vor den andern gestellt… das alles, nicht um ein andrer Mensch, sondern um ein TYP zu werden: von einer Vorkriegserscheinung zu einer Nachkriegserscheinung, von einer Landpomeranze zu einem Großstadtgeschöpf, bei dem als Beschreibung genügte: GROSS , SCHLANK , DUNKELHAARIG .
    In einer solchen Beschreibung als Typ fühlte man sich auch von seiner eigenen Geschichte befreit, weil man auch sich selber nur noch erlebte wie unter dem ersten Blick eines erotisch taxierenden Fremden.
    So wurde ein Seelenleben, das nie die Möglichkeit hatte,beruhigt bürgerlich zu werden, wenigstens oberflächlich verfestigt, indem es hilflos das bürgerliche, vor allem bei Frauen übliche Taxiersystem für den Umgang miteinander nachahmte, wo der andre mein Typ ist, ich aber nicht seiner, oder ich seiner, er aber nicht meiner, oder wo wir füreinander geschaffen sind oder einer den andern nicht riechen kann, – wo also alle Umgangsformen schon so sehr als verbindliche Regeln aufgefaßt werden, daß jedes mehr einzelne , auf den andern ein bißchen eingehende Verhalten nur eine Ausnahme von diesen Regeln bedeutet. »Eigentlich war er nicht mein Typ«, sagte die Mutter zum Beispiel von meinem Vater. Man lebte also nach dieser Typenlehre, fand sich dabei angenehm objektiviert und litt auch nicht mehr an sich, weder an seiner Herkunft, noch an seiner vielleicht schuppigen, schweißfüßigen Individualität, noch an den täglich neu gestellten Weiterlebensbedingungen; als Typ trat ein Menschlein aus seiner beschämenden Einsamkeit und Beziehungslosigkeit hervor, verlor sich und wurde doch einmal wer, wenn auch nur im Vorübergehen.
    Dann schwebte man nur so durch die Straßen, beflügelt von allem, an dem man sorglos vorbeigehen konnte, abgestoßen von allem, das ein Stehenbleiben forderte und einen dabei wieder mit sich selber behelligte: von den Menschenschlangen, einer hohen Brücke über der Spree, einem Schaufenster mit Kinderwagen. (Wieder hatte siesich heimlich ein Kind abgetrieben.) Ruhelos, damit man ruhig blieb, rastlos, um von sich selber loszukommen. Motto: »Heute will ich an nichts denken, heute will ich nur lustig sein.«
    Zeitweise glückte das, und alles Persönliche verlor sich ins Typische. Dann war sogar das Traurigsein nur eine kurze Phase der Lustigkeit: »Verlassen, verlassen, / wie ein Stein auf der Straßen / so verlassen bin ich«; mit der narrensicher imitierten Melancholie dieses künstlichen Heimatliedes steuerte sie ihren Teil zur allgemeinen und auch eigenen Lustbarkeit bei, worauf das Programm zum Beispiel weiterging mit männlichem Witzeerzählen, bei dessen schon im voraus zotenhaften Tonfall man erlöst mitlachen konnte. Zu Hause freilich die VIER WÄNDE , und mit diesen allein; ein bißchen hielt die Beschwingtheit noch an, ein Summen, der Tanzschritt beim Schuhausziehen, ganz kurz der Wunsch, aus der Haut zu fahren, aber schon schleppte man sich durch das Zimmer, vom Mann zum Kind, vom Kind zum Mann, von einer Sache zur andern.
    Sie verrechnete sich jedesmal; zu Hause funktionierten die kleinen bürgerlichen Erlösungssysteme eben nicht mehr, weil die Lebensumstände – die Einzimmerwohnung, die Sorge um nichts als das tägliche Brot, die fast nur auf unwillkürliche Mimik, Gestik und verlegenen Geschlechtsverkehr beschränkte Verständigungsformmit dem LEBENSGEFÄHRTEN – sogar noch vor-bürgerlich waren. Man mußte schon außer Haus gehen, um wenigstens ein bißchen etwas

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