Wuppertod
Rolle versinken. Er verkörperte
einen kleinen Ganoven, der von einer jungen Detektivin verfolgt
wurde. In seiner Not sollte er auf das Gerüst der Schwebebahn
flüchten. Jetzt kletterte er über den eisernen Zaun,
hinab zum Wupperufer und hangelte sich an der
Schwebebahnstütze hinauf. Behände kletterte der blonde
Hüne an der lindgrünen Konstruktion empor, seine
Verfolgerin blieb ihm dicht auf den Fersen. Gemmerings Hände
glitten geschickt über die Streben im Gerüst der
Stütze, seine Fingerkuppen tasteten über die großen
Nieten, mit denen man die Konstruktion zusammengesetzt hatte. Er
spannte die Muskeln an, zog sich in die Höhe, suchte mit den
Füßen Halt im Gerüst, fand ihn und setzte nach.
Alles war kinderleicht. Schon mehrere Male hatte er diese Szene
geprobt. Alles musste sitzen. Die Stadtwerke hatten eine Bahn
bereitgestellt, die genau im richtigen Moment unter ihnen her
rollen würde. Alles musste passen. Seine schauspielerische
Leistung, seine Mimik, seine Kletterkünste und vor allem das
Timing.
Gemmering war
Profi.
Und es war an der
Zeit, dass Tickmann auf ihn aufmerksam wurde. Lange hatte sich der
Regisseur auf seinen Liebling, auf Tim Heiger, eingeschossen, hatte
alles, was unters Heigers Niveau lag, mit einem müden
Lächeln auf den Lippen nach Hause geschickt. Nach Heigers Tod
sah nun alles anders aus. Tickmann würde froh sein, wenn
er den Film
fertig drehen durfte, bevor Hanke ihm den Geldhahn
zusperrte.
Das war seine Chance.
Lars Gemmering würde alles geben.
Jetzt stand er endlich
auf dem Gerüst der Bahn. Links neben ihm die Stütze
Nummer 233, die er erklommen hatte. Nur nicht nach unten blicken,
mahnte er sich. Er schwankte kurz, richtete sich dann auf. Von hier
aus hatte er einen wundervollen Ausblick auf Elberfeld. Die Station
Ohligsmühle lag hinter ihm, vor ihm die Brücke über
die B7, rechts erkannte er das Acordis-Hochhaus, die beiden spitzen
Türme von St. Laurentius und das Flachdachgebäude einer
großen Bank am Kasinokreisel, der schon seit einigen Jahren
kein Kreisel mehr war. Hinter ihm schälten sich die Türme
des Elberfelder Rathauses aus dem Dunst.
Sekundenlang tanzten
plötzlich schwarze Punkte vor seinen Augen und ihm wurde
gleichzeitig siedend heiß und eiskalt. Diese verdammte
Höhenangst, durchzuckte es ihn. Tief unter sich vernahm er das
Rauschen der Wupper, hörte den Motorenlärm der Autos, die
auf vier Spuren an ihm vorbeirauschten.
Ich darf mir jetzt
keine Schwäche leisten …
Er zwang sich ruhig zu
bleiben und konzentrierte sich auf den Job. Auf die Rolle des
Ganoven, den er verkörperte. Und Gemmering dachte an Kathrin,
die unten am Set stand und sicherlich zitterte vor Angst um ihn. Er
wollte sie nicht enttäuschen. Also weiter.
Eilig warf er einen
Blick nach unten, so, wie es das Drehbuch verlangte. Die junge
Frau, die seine Verfolgerin mimte, war dicht hinter ihm. Also
los.
Ihm wurde schwindelig
…
Nein, nicht
jetzt…
Insgesamt drei Kameras
filmten die Verfolgungsszene auf dem Schwebebahngerüst aus
verschiedenen Blickwinkeln.
Zwei der Kameras
begleiteten seinen Weg von rechts und links, eine dritte Kamera
filmte die Szene von unten. Dirk Gemmering rannte weiter. Seine
Schritte klapperten auf dem Gerüst. Jetzt vibrierte der Boden
unter seinen Füßen. Verdammt, was war das?
Er hatte einmal ein
Erdbeben miterlebt. So ähnlich fühlte es sich jetzt auch
an. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Schweißperlen standen
auf Gemmerings Stirn. Das grüne Stahlgerüst
bebte.
Die Schwebebahn,
durchzuckte es ihn. Man hatte der Bahn das Signal gegeben. Sie
näherte sich der Station Ohligsmühle. Alles im Film
sollte authentisch aussehen. Und dazu gehörte nun mal auch die
Schwebebahn.
Jetzt vernahm er das
leise Quietschen der Stahlräder. Im Zuge des
Schwebebahnausbaus hatte man so genannte Flüsterschienen
eingesetzt, die das einst so charakteristische Quietschen der
Schwebebahn verringern sollten. Jetzt, hier oben, drang das einst
so vertraute Quietschen der Räder schrill an seine Ohren. Es
bereitete ihm zum ersten Mal in seinem Leben Angst.
Gemmering ruderte mit
den Armen, blickte noch einmal nach hinten. Seine Verfolgerin war
ihm auf den Fersen, hatte aufgeholt. Auch das stand genau so im
Drehbuch.
Nur nicht nach unten
blicken …
Er blickte nach vorn.
Jetzt nahm er eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Sein Kopf ruckte
zur Seite, nach rechts. Eine Person stand auf dem Flachdach der
Bank. Fast auf Augenhöhe mit ihm. Breitbeinig, lauernd.
Weitere Kostenlose Bücher