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oberen Klassen, hatte aber dafür gesorgt, daß er dienstags keine Stunden zu geben hatte, um sich einen Vormittag in der Woche ausschließlich seinen Pflichten als Schulleiter widmen zu können. Der Nachmittag war sogar ganz frei; das hatte er gleich damals, als er die Stelle antrat, so eingeführt. Er freute sich auf einen ruhigen Tag.
Zunächst sah es auch wirklich so aus, als würde dies ein Tag nach seinem Herzen. Selbst das gemeinsame Singen bei der Morgenandacht hatte sich heute zum erstenmal halbwegs erträglich angehört; die Dinge, die zu tun er sich vorgenommen hatte, erledigten sich problemlos und schnell. Dann, um Viertel nach elf, kam der Anruf. Mrs. Webb nahm ihn entgegen.
»Ich hätte gern den Direktor.«
»Wenn Sie mir bitte Ihren Namen nennen würden.«
»Morse. Inspector Morse.«
»Oh – einen Augenblick, bitte, Sir. Ich werde fragen, ob er zu sprechen ist. – Ein Inspector für Sie, Sir. Soll ich ihn durchstellen?«
»Äh … ja natürlich.«
Mrs. Webb drückte auf einen Knopf und war im Begriff, den Hörer aufzulegen, als sie plötzlich zögerte und ihn dann wieder ans Ohr hielt.
»… von Ihnen zu hören. Ich hatte Ihnen ja schon in meinem Brief angeboten, daß ich Ihnen selbstverständlich gerne zur Verfügung stehe, falls …«
»Genau deswegen rufe ich an, Sir. Ich habe eine oder zwei Fragen, die Sie mir vielleicht beantworten können.«
»Entschuldigen Sie, Inspector, aber ich habe im Augenblick nicht sehr viel Zeit – ich erwarte gleich einige der neuen Schüler zu einem Gespräch bei mir. Ich würde vorschlagen, daß wir uns …« Mrs. Webb legte geräuschlos den Hörer auf, und als Phillipson zu ihr ins Zimmer trat, war sie schon wieder eifrig beim Tippen. »Ich werde heute nachmittag in der Schule sein, Mrs. Webb. Inspector Morse möchte sich mit mir unterhalten. Er kommt um drei. Könnten Sie uns Tee und etwas Gebäck hinstellen?«
»Ja, natürlich.« Sie machte sich eine Notiz. »Nur für Sie beide?«
»Nein, für drei. Er bringt noch einen Sergeant mit – ich habe seinen Namen vergessen.«
Eben dieser namenlose Sergeant verbrachte unterdessen einen anregenden Vormittag im Altenheim in Cowley, wo er Mr. Joseph Godberry lauschte, dessen Erzählungen, wenn man sie nicht zu oft hören mußte, außerordentlich fesselnd sein konnten. Er hatte im Ersten Weltkrieg bei Mons gekämpft, war später nach Rouen verlegt worden, wo er es – laut eigener Aussage – mit jeder Hure im Umkreis von zehn Kilometern getrieben hatte, und 1917 wegen Dienstunfähigkeit entlassen worden. (Vermutlich, weil er sich im Bett zu sehr verausgabt hat, dachte Lewis frivol.) Godberry schien einen unerschöpflichen Schatz von Erinnerungen zu haben und war – auf einem Stuhl neben seinem Bett sitzend – offenbar nur zu gern bereit, ihn vor Lewis auszubreiten. Er war wohl ziemlich einsam, klagte aber nicht und schien sein Schicksal, das ihn zu diesem beschränkten Leben in einem kleinen Zimmer auf der Station D verurteilt hatte, mit Würde und einer Art heiterer Gelassenheit zu tragen. Er erklärte Lewis, daß er kaum noch laufen könne, und gab ihm eine detaillierte Schilderung seines Unfalls. Dieser Unfall gehörte zusammen mit Mons und Rouen zu den Höhepunkten seines ansonsten recht einförmig verlaufenen Lebens, und es bedurfte einiger Minuten geduldigen Insistierens, bis Lewis die Aufmerksamkeit des Alten von seinen Lieblingsthemen auf das Verschwinden von Valerie Taylor gelenkt hatte. O ja, natürlich könne er sich an sie erinnern. Ein nettes Mädchen, diese Valerie. Wirklich sehr nett. Die sei jetzt bestimmt in London, wetten? – und Dienstag, der 10. Juni, der Tag, an dem sie verschwand? Konnte er noch einmal ganz genau erzählen, wie das da gewesen sei? Godberry holte weit aus. Was er sagte, stimmte ziemlich genau mit seiner Aussage von damals überein. Nach ein paar Minuten schien er müde zu werden und verlor häufiger den Faden. Lewis, der ihm aufmerksam zugehört hatte, fand, es sei an der Zeit, nun endlich seine wichtigste Frage zu stellen – bevor der alte Mann ihm einnickte.
»Wissen Sie auch noch, ob Valerie damals etwas bei sich trug?« Godberry rutschte unschlüssig auf seinem Stuhl hin und her und sah Lewis aus seinen alten, wäßrigen Augen ratlos an; doch Lewis kam es so vor, als sei für den Bruchteil einer Sekunde eine Erinnerung in ihnen aufgeschienen, und versuchte, etwas nachzuhelfen. »Eine Tasche vielleicht?«
»Eine Tasche …« wiederholte der Alte langsam.
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