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George kennenlernte.«
»Ich verstehe«, sagte Morse leise.
Auf dem Weg zur Tür fragte sie: »Wollen Sie sich auch mit ihm unterhalten?« Morse nickte. »Es ist mir egal, was Sie ihn fragen, nur bitte, wenn es geht … erwähnen Sie nichts von dem, was wir zuletzt besprochen haben. Er war immer wie ein richtiger Vater zu ihr … aber er hat viel durchmachen müssen. In der ersten Zeit nach unserer Heirat haben sie deswegen auf seine Kosten Witze gemacht, vor allem, weil … vor allem, weil unsere Ehe kinderlos blieb. Sie verstehen schon. Es hat ihn verletzt. Er hat sich nichts anmerken lassen, aber ich habe es gespürt, und … ich möchte nicht, daß er jetzt wieder daran erinnert wird. Er ist immer gut zu mir gewesen, ein guter Ehemann und ein guter Vater.«
Sie sprach mit großer Wärme. Die Anteilnahme für ihren Mann machte ihr Gesicht lebendig, so daß sie auf einmal wieder ganz jung und hübsch aussah. Er konnte gar nicht anders, als es ihr zu versprechen. Hoffentlich brauchte er die alten Geschichten nicht wieder aufzurühren, keine Fragen zu stellen, wer Valeries wirklicher Vater gewesen war. Falls das überhaupt jemand beantworten konnte … Vielleicht wußte Mrs. Taylor es selbst nicht.
Aber während er in Gedanken durch den schmalen Vorgarten ging, beschäftigte ihn schon etwas anderes. Was hatte Mrs. Taylor so nervös gemacht? Das war nicht die normale Aufgeregtheit gewesen, weil plötzlich ein Fremder ins Haus gekommen war, und sei es ein Polizist. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie ihm die Tür öffnete, war erschrocken gewesen, als habe er sie bei etwas Unerlaubtem erwischt. Genau so sah ihn seine Sekretärin an, wenn er unvermittelt ihr Büro betrat und sie hastig etwas in ihrer Schublade verschwinden ließ – einen Brief, eine Illustrierte, irgend etwas, das bei der Arbeit nichts zu suchen hatte – und das er nicht sehen sollte. Hatte Mrs. Taylor vielleicht Besuch gehabt, von dem er nichts wissen sollte? Das würde ihr Verhalten erklären. Ihm war plötzlich, als spüre er einen Blick im Rücken, und er drehte sich auf dem Absatz um und sah zum Haus zurück. An einem der oberen Fenster wurde sacht ein Gardinenzipfel fallengelassen, eine schemenhafte Silhouette tauchte zurück in das Dunkel des Zimmers. Eine fast unmerkliche Bewegung nur, doch sie war ihm nicht entgangen. Die Gardine blieb ruhig, das Haus lag wie ausgestorben. Fast konnte er denken, er habe sich alles nur eingebildet. Ein Kohlweißling flatterte über die Ligusterhecke und war im nächsten Augenblick verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Kapitel Zwölf
Dabei wird der Deckel der Mülltonne mechanisch geöf f net
Im letzten Moment.
Man könnte sich einer Leiche so entledigen,
Ohne den geringsten Anstoß zu erregen
D. J. Enright, Ohne Anstoß zu erregen: Berlin
Morse wurde sich, als er die Woodstock Road hinunterfuhr, auf einmal der Tatsache bewußt, daß er zwar schon viele Dinge in seinem Leben gemacht, aber noch nie eine Müllkippe besucht hatte. Seltsamerweise wußte er trotzdem gleich, wie er zu fahren hatte: rechts ab in die St. Bernard’s Road und durch die Walton Well Road, dann auf der gewölbten Brücke über den Kanal und weiter, bis die Straße vor einem Tor, das jetzt offenstand, endete und eine schmale Betonpiste begann. Morse hielt an, um das am Tor angebrachte Verbotsschild zu studieren. Unbefugten war die Weiterfahrt untersagt; Zuwiderhandlungen würden strafrechtlich verfolgt. Der Unterzeichner führte den, wie Morse fand, reichlich hochtrabenden Titel eines Conservator and Sheriff of Port Meadow. Morse legte den ersten Gang ein und setzte seine Fahrt fort. Als Polizist war er befugt. Leider. Er hätte gar nichts dagegen gehabt, zurückgeschickt zu werden, aber den Gefallen tat ihm keiner. Er fuhr langsam weiter, zu seiner Linken einen lichten Waldgürtel, zu seiner Rechten die offene grüne Weite von Port Meadow. Zweimal mußte er vor entgegenkommenden Müllwagen auf die Grasnarbe ausweichen. Ein hölzernes Tor über einem Weiderost zeigte ihm an, daß er am äußeren Bereich der Deponie angelangt war. Es schien ihm ratsam, den Lancia hier stehenzulassen. Er stieg aus und ging zu Fuß weiter. Eine Warntafel wies daraufhin, daß regelmäßig Insektenvertilgungsmittel versprüht werde. Man faßte hier wohl besser nichts an. Nach ungefähr zweihundert Metern erblickte er dann den ersten Abfall. Bis dahin war weit und breit nichts zu sehen gewesen als eine wüste, von den Ketten
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