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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

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Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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hatte.
     
     

Kapitel Elf
     
    Alle Frauen werden wie ihre Mütter. Das ist ihre Trag ö die.
    Oscar Wilde
     
    Die Arme in die Seiten gestützt, stand Morse und betrachtete das Foto an der Wand. Es zeigte ein Mädchen – schlank, mit dunklen Haaren, Augen, aus denen die Aufforderung sprach, es doch zu wagen, und einer Figur, die ahnen ließ, daß es sich lohnen würde. Sie sah ungewöhnlich anziehend aus, und so wie die Ältesten von Troja, als sie Helenas ansichtig wurden, war auch Morse nicht überrascht, daß es ihretwegen zu Komplikationen gekommen war – oder Schlimmerem.
    »Ein hübsches Mädchen, Ihre Tochter.«
    Mrs. Taylor lächelte etwas bitter. »Das ist nicht Valerie, das bin ich«, sagte sie.
    Morse drehte sich zu ihr um, in seinen Augen lag ein Ausdruck ungläubiger Verblüffung. »Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht. Äh – ich meine, ich hatte nicht erwartet, daß Sie sich derartig ähnlich sehen würden, ich wollte natürlich nicht sagen …«
    »Ich war früher wohl mal das, was man attraktiv nennt. Auf dem Bild da bin ich siebzehn; es ist vor zwanzig Jahren gemacht worden. Die Zeit ist so schnell vergangen.«
    Morse musterte sie unauffällig, während sie sprach. Um die Hüften herum war sie fülliger geworden, und die Beine, obwohl noch immer schlank, waren von Krampfadern durchzogen. Die dunklen Haare waren inzwischen von grauen Strähnen durchzogen, die Zähne vom vielen Rauchen gelblich verfärbt, und ihr Hals begann welk zu werden. Und dennoch … Männer haben es da besser, dachte Morse. Der Alterungsprozeß verläuft bei ihnen unauffälliger. Hinter ihr auf einem kleinen Schränkchen stand eine Porzellanvase von anmutiger Schönheit, und Morse ertappte sich dabei, wie er sie immer wieder ansah, jedesmal aufs neue darüber verwundert, in diesem karg eingerichteten Zimmer einen Gegenstand von solch vollendeter Harmonie zu finden.
    Sie unterhielten sich ungefähr eine halbe Stunde, in der Hauptsache über Valerie. Mrs. Taylor konnte dem, was sie schon früher gesagt hatte, nichts hinzufügen. Sie schien sich an jedes noch so kleine Ereignis jenes 10. Juni erinnern zu können und haspelte ihre Darstellung herunter wie auswendig gelernt. Aber Morse war darüber nicht allzu erstaunt. Schließlich war richtig, was Phillipson ihm gestern abend gesagt hatte: der Dienstag vor zwei Jahren war kein gewöhnlicher Tag gewesen. Er erkundigte sich, wie es ihr gehe, und erfuhr, daß sie angefangen hatte zu arbeiten – nur vormittags, in dem großen Supermarkt. Sie füllte die Regale nach. Das war zwar anstrengend, weil sie immer auf den Beinen sein mußte, aber besser, als die ganze Zeit zu Hause zu sitzen. Und etwas eigenes Geld zu haben war auch nicht schlecht. Aus gutem Grund hatte Morse sich die Frage bis fast zum Schluß aufgehoben.
    »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich Sie noch um eine etwas intimere Auskunft bitte?«
    »Nein, ich glaube nicht.«
    Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Hand zitterte etwas. Morse war plötzlich, als sehe er sie mit ganz anderen Augen. Wieso fiel ihm das erst jetzt auf? Es war doch mehr als deutlich: die Art, wie sie dasaß, mit leicht gespreizten Knien, der Rock etwas hochgerutscht – eine einzige unbewußte Einladung. Er holte tief Luft.
    »Wußten Sie, daß Valerie schwanger war, als sie verschwand?«
    Schlagartig änderte sich ihre Haltung. Sie setzte sich aufrecht hin und fauchte ihn, die Augen zusammengekniffen, wütend an: »Das ist Unsinn. Valerie war nicht schwanger. Ich muß es ja wohl wissen, ich bin schließlich ihre Mutter. Wer Ihnen das erzählt hat, ist ein dreckiger Lügner!« Ihre Stimme klang auf einmal rauh und gewöhnlich. Die Fassade kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit bekam Risse. Morse begann, sich seine Gedanken zu machen: der Ehemann den Tag über weg, die Tochter nur kurz zum Mittagessen zu Hause, und auch das erst während ihres letzten Schuljahres, viele lange, öde Tage …
    Die nächste Frage hatte er eigentlich gar nicht vorgehabt zu stellen. Es gab Dinge, die gingen keinen Außenstehenden etwas an. Das Foto in der Sunday Times hatte ihn daraufgebracht. Sie und ihr Mann auf dem roten Sofa, neben sich das Tischchen mit den Gratulationskarten zum achtzehnten Hochzeitstag. Valerie wäre jetzt zwanzig, vorausgesetzt, sie lebte noch. Er holte tief Luft.
    »Ist Valerie von Ihrem Mann, Mrs. Taylor?«
    Sie blickte getroffen zur Seite. »Nein – nein, Valerie war schon da, bevor ich

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