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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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der Raupenfahrzeuge zerfurchte Fläche, und nur einige wenige Stellen, an denen – von der Erde nicht ganz bedeckt – ein Stück Sackleinwand hervorschaute, hatten ahnen lassen, daß unter seinen Füßen Tausende von Tonnen Müll begraben waren. Bald würden hier Gras und Sträucher zu wachsen beginnen, kleine Tiere würden die Wildnis wieder in Besitz nehmen und ungestört zwischen Farnen und wilden Blumen umherhuschen. Aber nicht lange, und auch die Menschen würden kommen, Picknicks abhalten und Abfall hinterlassen – der Kreislauf würde wieder von vorn beginnen. Der Homo sapiens war in mancherlei Beziehung wirklich verabscheuungswürdig.
    Er schritt auf eine Holzbude zu, der einzige Hinweis, daß sich hier möglicherweise irgendwo Menschen aufhielten. Die grüne Farbe war bis auf Reste längst abgeblättert, die Hütte wirkte, als könne sie jeden Moment in sich zusammenstürzen. Ein unglaublich schmutziger Arbeiter wies ihm den Weg tiefer hinein in das Labyrinth von Unrat. Zwei Elstern und eine düstere Krähe schwangen sich, als er näherkam, zögernd in die Luft und flogen mit langsamen Flügelschlägen über die Ödnis davon. Schließlich erreichte Morse den Teil der Kippe, der den neu anfallenden Müll aufnahm: Pepsi- und Cocadosen, brüchig gewordene Gummihandschuhe, rostiger Draht, leere Waschmittelpakete und eine verrottete Dartszielscheibe, Keksbüchsen, ausgetretene Schuhe, eine Wärmflasche, ausrangierte Autositze und eine Vielzahl Pappkartons in allen Größen. Morse versuchte, die Fliegen, die seinen Kopf umschwirrten, zu verscheuchen, und war froh, als er noch eine letzte Zigarette fand. Das leere Päckchen ließ er achtlos fallen – ihm schien, als komme es hier nicht so darauf an.
    Weiter vorn, neben einem Bulldozer, stand ein Mann. Das mußte George Taylor sein. Das Brummen des Motors war so laut, daß er sich dem Fahrer nur schreiend verständlich machen konnte. Er deutete auf einen flachen Hügel aus Erde und Steinen, der die eine Seite des Müllfeldes wie ein Wall abschloß. Morse stellte sich vor, wie ein Archäologe in tausend Jahren darangehen würde, das Leben der heutigen Menschen zu erforschen, und bedauerte ihn schon jetzt für die erbärmlichen Überreste, die er zutage fördern würde.
    George war ein untersetzter, breitschultriger Mann, vielleicht nicht besonders intelligent, sah aber zuverlässig und vertrauenerweckend aus. Er hatte sich auf einer verbeulten Öltonne niedergelassen und Morse eine ähnliche Sitzgelegenheit angeboten, aber dieser hatte mit Rücksicht auf seine Hosen dankend abgelehnt. Während sie sich unterhielten, versuchte Morse, sich die häusliche Szene zu vergegenwärtigen, wie sie sich bis vor zwei Jahren allabendlich am Hatfield Way abgespielt hatte: George, der gegen Viertel nach sechs müde und schmutzig von der Arbeit heimkehrte, Mrs. Taylor beim Kochen des Abendessens und Valerie … doch in bezug auf sie ließ ihn seine Phantasie im Stich. War sie dazu bereit gewesen, im Haushalt mit anzufassen? Schwer zu sagen. Drei Menschen unter demselben Dach vereint, und doch jeder allein, verbunden einzig durch die Tatsache, daß sie zur selben Familie gehörten. Morse fragte George über Valerie aus – was sie zu Hause gemacht habe, wie es ihr in der Schule ergangen sei, welche Vorlieben und Abneigungen sie gehabt habe. Aber Georges Erläuterungen waren seltsam nichtssagend.
    »Sind Sie jemals auf den Gedanken gekommen, daß Valerie fortgelaufen sein könnte, weil sie ein Baby erwartete?«
    George zündete sich umständlich eine Woodbine an und starrte auf die Glasscherben zu seinen Füßen. »Das ist wirklich komisch; bei so was gibt es fast nichts, an das man nicht denkt … Als sie noch jünger war, da passierte es auch schon manchmal, daß sie zu spät nach Hause kam, und ich weiß noch, wie ich dagesessen und auf sie gewartet und mir alles mögliche ausgemalt habe, was geschehen sein könnte.« Morse nickte. »Haben Sie auch Familie, Inspector?«
    Morse schüttelte den Kopf und blickte wie George zu Boden.
    »Man stellte sich die schlimmsten Sachen vor, und dann ging die Haustür, und sie war wieder da, und ich war unheimlich froh und gleichzeitig auch etwas sauer, wenn Sie wissen, was ich meine.«
    Morse glaubte zu verstehen. Georges Worte hatten zum erstenmal so etwas wie Mitgefühl in ihm geweckt. Er hoffte, daß Valerie Taylor noch am Leben war.
    »Kam sie oft zu spät nach Hause?«
    George zögerte. »Ach, eigentlich nicht. Jedenfalls nicht, bevor

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