. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
geschieht, ist es noch längst nicht gesagt, daß man ihn so schwer verletzt, daß er stirbt. Baines muß sich im Augenblick des Angriffs mit der rechten Schulter etwas nach vorn gebeugt und seinem Mörder damit die einzige Stelle dargeboten haben, auf die ein solcher tödlicher Stich geführt werden kann. Hier konnte das Messer glatt eindringen.«
Lewis haßte den Anblick des Todes und merkte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Er ging zum Spülbecken, um sich ein Glas Wasser zu holen. Baines hatte nach seiner letzten Mahlzeit Besteck und Teller abgewaschen und zum Trocknen in den Geschirrkorb gestellt; der Lappen war ausgewrungen und lag ordentlich über den Beckenrand gebreitet.
»Vielleicht läßt sich durch die Autopsie feststellen, wann er Abendbrot gegessen hat«, sagte Lewis.
Morse wiegte zweifelnd den Kopf. Er trat neben den Sergeant an den Spülstein und schaute sich um, ging dann zu dem kleinen Schränkchen direkt daneben und öffnete die oberste Schublade. Bestecke und Küchengerät – das Übliche. Tee- und Eßlöffel, eine Kelle, ein Pfannenwender, zwei Korkenzieher, eine Schere, ein Kartoffelschäler, ein paar Fleischspieße, ein Wetzstahl und – ein großes Messer. Morse nahm es heraus und betrachtete es gründlich von allen Seiten. Der Griff war aus Bein, die Klinge vom vielen Schleifen schon ganz dünn. »Das sieht so aus, als hätte er es schon eine ganze Weile gehabt«, sagte Morse. Er fuhr mit dem Finger über die Schneide. Sie war von genau derselben gefährlichen Schärfe wie die des anderen Messers, das ihm ins Herz gedrungen war.
»Wie viele große Messer zum Fleischschneiden haben Sie bei sich zu Hause, Lewis?«
»Nur eins.«
»Haben Sie mal daran gedacht, sich noch ein zweites dazuzukaufen?«
»Nee, ich wüßte nicht, warum.«
Morse nickte. Er legte das Messer auf den Küchentisch und warf einen Blick in die enge Speisekammer. Obst- und Gemüsekonserven. Er konnte sich nicht vorstellen, daß eine noch so überlegt geführte Durchsuchung hier etwas Wesentliches zutage fördern würde.
»Gehen wir mal rüber in sein Arbeitszimmer, Lewis. Sie nehmen sich den Schreibtisch vor, ich sehe mich bei seinen Büchern um.«
Die hohen Regale waren angefüllt mit mathematischer Fachliteratur. Vor einer Reihe gleich eingebundener Bücher blieb Morse stehen. Neue Schulmathematik. Zehn Bände. Die entsprechenden Lehrerbände gleich dahinter. Morse griff mit ungewohntem Respekt nach Band 1 der Lehrbücher.
»Kennen Sie sich aus mit moderner Mathematik, Lewis?«
»Moderne Mathematik? Und ob! Da bin ich inzwischen Experte. Was glauben Sie, wer den Kindern die Hausaufgaben macht?«
»Ah, so ist das.« Morse stellte etwas gekränkt fest, daß selbst der Inhalt von Band 1 für ihn noch zu hoch war, und machte sich daran herauszufinden, welche Bücher Baines sonst noch besaß. Er war ohne Zweifel auf seinem Fachgebiet gebildet gewesen, schien aber an schöner Literatur kein Interesse gehabt zu haben. Da war ihm Maguires krude Sammlung fast noch lieber. Dessen Bücher rührten wenigstens an Emotionen.
Während er langsam von Regal zu Regal schritt, begann die Tatsache, daß Baines tot war – brutal ermordet –, allmählich mit all ihren Implikationen in sein Bewußtsein zu dringen. Bis dahin hatte er nur den Mord an sich gesehen, war gar nicht dazu gekommen, sich darüber hinaus weitere Gedanken zu machen. Aber damit würde er schon bald anfangen. Bestimmte Dinge lagen bereits jetzt klar auf der Hand, oder machte er sich da nur wieder etwas vor? Nein, wohl nicht. So hatte Baines’ Tod ganz nebenbei die Entscheidung gebracht, welchem Bündel Heu der Esel sich zuwenden würde, und auch das war ohne Zweifel schon ein Fortschritt. Als weitere berechtigte Schlußfolgerung ergab sich, daß Baines etwas gewußt haben mußte. Oder nein, stop, das war nicht ganz richtig. Baines hatte vermutlich a l les gewußt. Doch war das der Grund für seine Ermordung? Es schien immerhin die plausibelste Erklärung zu sein. Aber wer hatte ihn umgebracht? Wer? Wie es aussah, mußte Baines seinen Mörder gekannt haben. Ziemlich gut sogar; denn dieser war ihm, offenbar mit seinem Einverständnis, in die Küche gefolgt und hatte dicht hinter ihm gestanden, als er in den Kühlschrank gegriffen hatte, um irgend etwas herauszuholen. Und schließlich konnte man wohl davon ausgehen, daß der Täter die Waffe mitgebracht hatte. Aber wie transportierte man ein Messer dieser Größe, ohne aufzufallen? Hatte er es im Strumpf
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