. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
stecken gehabt? Es war natürlich auch möglich, daß …
Ein leiser, durchdringender Pfiff unterbrach ihn in seinen Überlegungen. Die Miene des Sergeant zeigte, daß er gerade eine aufregende Entdeckung gemacht haben mußte.
»Ich glaube, Sie sollten besser mal kommen, Sir.«
Morse ging hinüber zum Schreibtisch, warf einen Blick in die unterste rechte Schublade und fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Da lag ein Heft, ein Schulheft, auf dessen Vorderseite in Großbuchstaben ein Morse nur allzu vertrauter Name stand: VALERIE TAYLOR. Darunter: Technisch - naturwissenschaftlicher Unterricht. Die beiden Männer sahen sich stumm an. Schließlich nahm Morse den Rücken des Hefts vorsichtig zwischen die Kuppen beider Zeigefinger und hob es in die Höhe. Dabei fielen zwei lose Blätter heraus und flatterten zu Boden. Morse bückte sich nach ihnen und legte sie auf den Schreibtisch. Es waren Briefentwürfe. Der eine begann mit Liebe Mami, lieber Papi und schloß Viele liebe Grüße, Eure Valerie. Manche Wörter waren durchgestrichen und mit kleinen Abweichungen in der Schreibung einzelner Buchstaben noch einmal darübergesetzt worden. Dazwischen ganze Reihen mit bestimmten Buchstaben, m, v und t, erst noch unbeholfen, dann allmählich immer gelungener, die letzten so perfekt, daß man hätte meinen können, sie seien von Valerie selbst geschrieben worden. Noch immer hatte keiner von ihnen ein Wort gesprochen. Schließlich war es Lewis, der das Schweigen brach.
»Sieht ganz danach aus, als sei außer Ihnen noch ein Fälscher am Werk gewesen, Sir.« Morse antwortete ihm nicht darauf. Irgendwo in seinem Hinterkopf hatte es geklickt – ein Puzzlestück war wie von selbst an seinen Platz gerutscht. Bisher hatte er, was geschehen war, aus Annahmen und Vermutungen rekonstruieren müssen, da die Tatsachen nur schemenhaft zu erkennen gewesen waren. Aber nun sprangen sie ihn geradezu an.
Es war klar, daß Baines den Brief an Valerie Taylors Eltern geschrieben hatte – und das bedeutete gleichzeitig, daß Valerie wahrscheinlich tot war. In gewisser Weise war Morse erleichtert, da er das Gefühl hatte, nun endlich zu wissen, woran er war; gleichzeitig spürte er jedoch auch eine tiefe Traurigkeit. Das Leben war etwas Unersetzliches, und fast jeder hatte seine kleinen Hoffnungen und Freuden, von denen Abschied zu nehmen schwerfiel. Jeder Mensch hatte ein Recht auf Leben. Genau wie er selbst, wie Lewis – und wie Baines? Ja, doch, Baines war da keine Ausnahme. Aber irgendjemand war in diesem Punkt anderer Ansicht gewesen, war der Überzeugung, Baines habe dieses Recht verwirkt, und hatte ihn mit einem Messer durchbohrt. Und von ihm, Morse, wurde nun erwartet, daß er herausfand, wer das getan hatte. Was ihm unter Umständen auch tatsächlich gelingen würde, jedenfalls wenn es in diesem Tempo weiterging. Vielleicht reichte es, die übrigen Schubladen durchzusehen. Möglicherweise lag die Lösung da schon fix und fertig parat. Obwohl – so ganz glaubte Morse nicht daran. Und er sollte recht behalten. Lewis und er machten sich in der nächsten halben Stunde mit Fleiß und Akribie über den Schreibtisch her, aber ohne etwas Wichtiges zu entdecken. Nur als sie auf eine Fotokopie von Phillipsons Spesenabrechnung stießen, hielten sie einen Augenblick inne und warfen sich einen vielsagenden Blick zu.
Auf der rechten oberen Seite des Schreibtisches, gleich neben dem weißen Telefon, lag ein flaches rechteckiges Plastikkästchen: ein Telefonregister. Morse hatte ihm keine Beachtung geschenkt, hatte es übersehen, weil es so unauffällig und alltäglich war. Doch plötzlich, als er sich schon abwenden wollte, blieb sein Blick daran hängen. Er drückte in der unbestimmten Erwartung, daß Baines seine Nummer vielleicht eines Eintrags für würdig befunden hatte, den Buchstaben M, und das Kästchen klappte bei der entsprechenden Karte auf; sie war jedoch leer. Offenbar hatte Baines keine Bekannten, deren Namen mit diesem Buchstaben begannen. Dasselbe schien für N und O zu gelten. Baines hatte sich wahrscheinlich das Register erst kürzlich zugelegt und war noch nicht dazu gekommen, die Namen und Nummern von einer früheren Liste zu übertragen. Allerdings hatten sie eine solche Liste bei ihrer Suche bisher nicht gefunden. Morse tippte mit dem Zeigefinger den nächsten Buchstaben und hielt unwillkürlich den Atem an. Unter P stand der Name Phillipson und dahinter seine Privatnummer in Oxford. Morse ging nun systematisch die
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