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von künstlerischer Wahrhaftigkeit zu verleihen
W. S. Gilbert, Der Mikado
Ein paar Jungen spielten Fußball vor dem Längsflügel der Schule, der an das Sportgelände grenzte. Weiße Markierungslinien unterteilten die riesige Fläche in ein Hockey- und ein Rugbyfeld. Es war Mittagspause. Die Hände in den Taschen, die Köpfe gesenkt, umschritten zwei Männer ein ums andre Mal die Spielfelder. Sie waren von annähernd gleicher Statur, beide höchstens mittelgroß. Die kickenden Jungen nahmen keine Notiz von ihnen. Sie konnten ja auch nicht wissen, daß der eine von beiden ein Chief Inspector bei der Polizei war und der andere, einer ihrer Lehrer, ein Mordverdächtiger.
Morse befragte Acum über seine Person, seine berufliche Laufbahn, über Valerie Taylor, Baines und Phillipson, sowie detailliert über die Tagung in Oxford. Er erfuhr nichts, das für ihn besonders interessant gewesen wäre. Acum machte auf ihn einen sympathischen, aber eher unauffälligen Eindruck. Er beantwortete Morses Fragen anscheinend ganz freimütig, wenn auch mit einer gewissen Vorsicht. Morse spielte eine Zeitlang mit und erklärte ihm dann in ruhigem, aber unmißverständlichem Ton, daß er ein Lügner sei, daß er in Wahrheit am Montagabend die Tagung schon gegen halb zehn verlassen habe und zur Kempis Street gegangen sei, um dort seinen ehemaligen Kollegen Baines zu besuchen. Dafür gebe es einen Zeugen. Wenn er trotzdem versuche, diese unbestreitbare Tatsache weiterhin zu leugnen, werde ihm, Morse, nichts anderes übrigbleiben, als ihn in Verbindung mit dem Mord an Reginald Baines festzunehmen und zur weiteren Befragung nach Oxford bringen zu lassen. Ganz einfach. Acums weiteres Verhalten gab Morse jedoch keinen Anlaß, seine Drohung wahrzumachen. Mit der Wahrheit konfrontiert, gab Acum sofort alles zu. Sie waren mittlerweile bei ihrer dritten Runde und befanden sich an der der Schule genau gegenüberliegenden Seite des Sportplatzes am Rande einiger vernachlässigter Schrebergärten, in denen ein paar alte, windschiefe Schuppen allmählich ihrem endgültigen Verfall entgegenrosteten. Vor dieser trist-romantischen Kulisse blieb Acum stehen und nickte mehrere Male langsam mit dem Kopf.
»Erzählen Sie mir einfach, was Sie an dem Abend gemacht haben«, sagte Morse.
»Ich hatte mich gleich zu Anfang in die Nähe der Türen gesetzt und bin vor dem allgemeinen Aufbruch gegangen. Es muß so gegen halb zehn gewesen sein, vielleicht auch etwas früher.«
»Und Sie wollten zu Baines?« Acum nickte. »Warum?«
»Ich hatte keinen besonderen Grund. Kongresse langweilen mich mitunter, und Baines wohnte ganz in der Nähe. Ich dachte, ich könnte vorbeigehen, sehen, ob er zu Hause wäre, und ihn dann fragen, ob er auf ein Bier mitkäme. Es hätte mich interessiert zu erfahren, was aus den alten Kollegen geworden ist – wer überhaupt noch da ist, wer die Schule verlassen hat, was sie jetzt so machen. Sie wissen schon.«
Er sprach ganz selbstverständlich, und wenn es Lügen waren, so kamen sie ihm bemerkenswert glatt über die Lippen.
»Nun«, fuhr Acum fort, »ich ging also zu ihm. Die Zeit drängte schon ein bißchen, denn die Pubs machen um halb elf zu, und ich war reichlich spät dran, weil ich unterwegs im Royal Oxford Hotel noch ein Bier getrunken hatte. Als ich vor seiner Tür stand, muß es schon fast zehn gewesen sein. Ich hatte ihn früher schon einmal besucht und dachte, er müsse dasein, weil in seinem Arbeitszimmer das Licht brannte.«
»Waren die Vorhänge vorgezogen?« Zum erstenmal, seit sie sich unterhielten, war Morse’ Ton kalt und schneidend.
Acum dachte einen Moment nach. »Ja, ich bin mir fast sicher, sie waren geschlossen.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Tja, also wie ich schon sagte, ich glaubte, er müsse dasein. Ich habe also geklopft, zwei –, dreimal, ziemlich laut. Aber es kam keiner, und ich dachte, daß er mich vielleicht nicht hörte. Es konnte ja sein, daß er das Fernsehen anhatte. Deshalb bin ich ans Fenster gegangen und habe an die Scheibe gepocht.«
»Und? Hatte er tatsächlich das Fernsehen an? War irgend etwas zu hören? Sahen Sie vielleicht ein bläuliches Flackern?«
Acum schüttelte den Kopf. Morse kam es so vor, als lausche er einer kaputten Schallplatte. Er hatte das alles schon einmal gehört und war sich ziemlich sicher, was als nächstes kommen würde.
»Es ist merkwürdig, Inspector, aber ich begann auf einmal, mich furchtbar unbehaglich zu fühlen – als ob ich ein Eindringling sei,
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