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türmten. Morse fühlte Dankbarkeit, daß er in seinem Beruf nicht Gefahr lief, in jeder Sekunde, nur durch eine einzige falsche Hand- oder Fußbewegung, in die tödliche Tiefe zu stürzen – egal wie schwierig seine Tätigkeit sonst auch sein mochte. Andererseits war ihm klar, daß auch er auf seine Weise gerade dabei war, einen Gipfel zu erklettern, und er kannte sehr gut das Triumphgefühl, wenn so ein Unternehmen gelang. Oft gab es nur einen Weg, der nach oben führte, einen einzigen; der, auf dem man es zuerst versucht hatte, stellte sich als völlig ungangbar heraus, also mußte man den anderen nehmen, der einem fast genauso ungangbar erschien. Mußte sich irgendwie mühsam am Rand der Steilwand entlang und an der unpassierbaren Stelle vorbei hochhangeln bis zum nächsten Vorsprung, von wo man überblicken konnte, wie es weiterging. Bei Baines’ Tod hatte Morse nur eine kleine Gruppe von Verdächtigen in Betracht gezogen. Natürlich konnte der Mörder auch jemand sein, der mit dem Verschwinden Valerie Taylors in keinerlei Verbindung stand, aber das bezweifelte er. Es waren also fünf, die in Frage kamen. Allerdings hatte er jetzt den Eindruck, daß die Verdachtsmomente sowohl gegen Mrs. Phillipson als auch David Acum sich wesentlich verringert hatten. Das hieß, es blieben die Taylors, und zwar beide, und Phillipson. Es war jetzt Zeit, die Tatsachen zu vergleichen und zu ordnen – und es waren viele, und vor allem seltsame, Tatsachen, die er über diese drei herausbekommen hatte. Einer von ihnen mußte der Täter sein; denn so viel stand wohl fest: Baines war vor den Besuchen von Mrs. Phillipson und David Acum ermordet worden. Ja, anders konnte es nicht gewesen sein. Das wollte er erst einmal festhalten. Man mußte sehen, was sich dann daraus weiter ergab.
Er fuhr nach Capel Curig und bog dort nach rechts auf die A 5 in Richtung Llangollen. Und während er fuhr, entdeckte er plötzlich das Muster. Er hätte es früher sehen sollen; aber jetzt, nach den Aussagen von Mrs. Phillipson und Acum, schien es ihm fast kinderleicht, die einzelnen Stücke in dieses neue und ganz andere Puzzle einzufügen. Eins nach dem anderen ließ sich problemlos an seinen Platz legen, während er mit hoher Geschwindigkeit weiter und weiter fuhr, an Shrewsbury vorbei, und immer noch auf der A 5, entlang der alten Römerstraße; fast hätte er den Abzweig nach Daventry und Banbury verpaßt. Es war kurz vor acht, und er begann zu spüren, daß er einen langen Tag hinter sich hatte. Ihm fiel wieder der unglückliche Lord aus den Nachrichten ein, dessen Leiche man in Essex aus dem Wasser gezogen hatte; und als er die Außenbezirke von Banbury hinter sich ließ, blinkte ein entgegenkommender Autofahrer ihn heftig an. Erschrocken bemerkte er, wie gefährlich weit er auf die andere Fahrbahn geraten war, und zwang sich zu erhöhter Aufmerksamkeit. Er kurbelte das Seitenfenster ganz herunter, sog tief die kühle Abendluft ein und sang dann mit traurigem Bariton ›Geh du voran, o freundlich Licht‹; immer und immer wieder die eine Strophe, die er noch auswendig wußte.
Er fuhr direkt nach Hause und schloß die Garage auf. Nach diesem langen Tag würde er hoffentlich gut schlafen.
Kapitel Siebenundzwanzig
Alle glücklichen Familien gleichen einander,
jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglüc k lich
Leo Tolstoi, Anna Karenina
Lewis ging es allmählich besser. Er fand, daß er versuchen sollte, einmal aufzustehen, tastete sich – noch etwas wacklig auf den Beinen – am Treppengeländer nach unten und setzte sich neben seiner überraschten Frau, die gerade gebannt einen Fernsehfilm verfolgte, auf das Sofa. Er hatte keine Ruhe mehr, und obwohl er sich noch schwach und ohne viel Energie fühlte, wußte er, daß das Schlimmste überstanden war und er bald wieder zum Dienst gehen konnte. Während seiner Krankheit hatte er viele Stunden damit zugebracht, über den Fall Taylor nachzudenken, und gerade heute morgen war ihm eine derartig umwälzend neue Idee gekommen, daß er seine Frau gedrängt hatte, im Präsidium anzurufen. Aber Morse war nicht da. Man hatte ihr gesagt, er sei unterwegs nach Caernarvon. Lewis war darüber einigermaßen verblüfft. Nach dem, was er sich inzwischen überlegt hatte, war das wirklich der letzte Ort, den aufzusuchen er für nötig gehalten hätte. Vermutlich hatte Morse eine wilde Hypothese in bezug auf Acum entwickelt und vergeudete mal wieder auf Staatskosten teures Benzin.
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