Wurzeln
gefunden hatte, und befestigte sie mit Draht in einem Holzgriff. Wichtiger aber noch als Nahrung und Messer war der Talisman, den er gemacht hatte – eine Hahnenfeder, die die Geister anzog, ein Pferdehaar, das Kraft, und eine Vogelschwinge, die Erfolg verlieh –, alles fest mit einem Dorn in Sackleinwand genäht. Er wünschte, sein Talisman wäre von einem heiligen Mann gesegnet worden, doch auch ein ungesegneter Talisman war besser als gar keiner.
Er tat kein Auge zu, war bei der Arbeit auf dem Feld am nächsten Tag aber keineswegs müde, sondern hatte eher Mühe, seine Erregung zu verbergen, denn heute nacht würde die Nacht sein. Nach dem Abendessen in die Hütte zurückgekehrt, schob er mit zitternden Händen Messer und Dörrfleisch in die Tasche und band den Talisman fest um den rechten Oberarm. Das allabendliche Schwatzen und Singen der Schwarzen dünkte ihn unerträglich; jeder Augenblick konnte ein neues Ereignis bringen, das seinen Plan vereitelte. Endlich gingen die Baumwollpflücker zur Ruhe. Kunta wartete, bis alle schliefen.
Dann schlich er in die Nacht hinaus, und als er merkte, daß niemand ihn beobachtete, rannte er gebückt davon, so schnell er konnte, einem Gebüsch zu, gleich unterhalb der Stelle, wo die große Straße einen Bogen machte. Er kauerte sich keuchend hin. Wenn nun heute nacht kein Wagen mehr kam? Dieser Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz. Und dann eine noch schlimmere, fast lähmende Angst: wenn nun der zweite Fuhrknecht hinten auf dem Wagen saß? Doch dieses Risiko mußte er auf sich nehmen.
Er hörte einen Wagen kommen, Minuten bevor er sein flackerndes Licht sah. Die Zähne zusammengebissen, alle Muskeln bebend angespannt, fühlte Kunta sich schwach werden. Doch da war der Wagen neben ihm angelangt und fuhr langsam vorüber. Zwei nur undeutlich erkennbare Gestalten saßen vorn auf dem Kutschbock. Kunta hätte schreien mögen, als er aus dem Gestrüpp hervorstürzte. Gebückt hinter dem knarrenden, schwankenden Wagen herlaufend, wartete er eine holprige Stelle ab, griff nach dem hinteren Wagenbrett, zog sich hinauf und in den Tabakberg hinein. Er hatte es geschafft!
Er wühlte sich in den Tabak hinein. Die Blätter waren viel fester gepackt, als er erwartet hatte, doch schließlich gelang es. Er bohrte ein Luftloch, um freier atmen zu können – von dem Geruch des unreinen Krautes wurde ihm fast übel –, und rekelte sich noch eine Weile hin und her, bis er die richtige Lage gefunden hatte. Die Weichheit des Polsters, das Schaukeln des Wagens und die Wärme der Blätter machten ihn bald schläfrig.
Heftiges Stoßen der Räder weckte ihn nach einer Weile. Würde man ihn entdecken? Wohin fuhr der Wagen überhaupt, und wie lange brauchte er bis zu seinem Ziel? Und würde er Gelegenheit haben, unbemerkt abzuspringen? Oder saß er dann wieder in der Falle? Warum hatte er daran nicht früher gedacht? Kunta sah Hunde vor sich und Samson und die toubobs mit ihren Gewehren, und ihn schauderte. Diesmal stand sein Leben auf dem Spiel, falls man ihn erwischte, das war gewiß.
Je intensiver er das bedachte, desto stärker wurde in ihm der Drang, möglichst bald abzuspringen. Er schob die Tabakblätter auseinander und streckte den Kopf hinaus: er sah nur endlose flache Felder. Nein, noch ging es nicht. Das helle Mondlicht würde seinen Verfolgern ebenso hilfreich sein wie ihm. Und je weiter er auf dem Wagen mitfuhr, desto unwahrscheinlicher wurde es, daß die Hunde ihn aufspürten. Er stopfte das Guckloch wieder zu und versuchte, sich zu beruhigen, doch jedesmal, wenn der Wagen stark schwankte, fürchtete Kunta, man könnte anhalten, und dann klopfte ihm das Herz im Halse.
Als er eine ganze Weile später abermals hinausspähte, sah er, daß der Morgen nicht mehr fern war. Da faßte er einen Entschluß: er mußte vor Tagesanbruch abspringen. Nach einem stummen Gebet zu Allah packte er den Griff seines Messers und wühlte sich aus seinem Versteck heraus. Er wartete, bis der Wagen wieder einmal stark holperte und schwankte, sprang ab und stand auf der Straße. Einen Augenblick später schon war er im Gebüsch verschwunden.
Kunta schlug einen weiten Bogen um zwei toubob -Farmen, deren vertraute Gebäude – großes, weißes Haus, kleine dunkle Hütten in der Nähe – er im Zwielicht erkennen konnte. Der Klang ihrer Weckhörner trieb durch die stille Luft zu ihm hinüber, und als es hell wurde, bahnte er sich durch Unterholz seinen Weg immer tiefer in einen großen Wald hinein. Es war
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