Wurzeln
liegenblieb, den Messergriff umklammerte und lauschte. Doch jetzt hörte er nichts – nichts als das Zwitschern der Vögel und das Summen der Insekten.
Hatte er wirklich Hunde gehört? Der Gedanke quälte ihn. Er wußte nicht, wer sein schlimmster Feind war: die toubobs oder seine Phantasie. Er konnte sich die bequeme Annahme nicht leisten, er habe die Hunde gar nicht gehört, und so rannte er weiter, weil darin seine einzige Sicherheit lag. Doch bald – erschöpft nicht nur vom langen, schnellen Laufen, sondern auch von der Angst – mußte er sich wieder ausruhen. Nur ein paar Minuten wollte er die Augen schließen und dann gleich weiterrennen.
Er wachte in Schweiß gebadet auf und fuhr hoch. Es war pechschwarze Nacht! Er hatte den Tag verschlafen. Kopfschüttelnd fragte er sich, was ihn wohl aufgeweckt hatte, und da hörte er es: Hundegebell! Er sprang so unvermittelt davon, daß ihm erst einige Augenblicke später sein Messer einfiel, das er hatte liegenlassen. Er stürzte zu der Stelle zurück, wo er geschlafen hatte, doch obwohl er wußte – eine Gewißheit, die ihn rasend machte! –, daß das Messer höchstens eine Armlänge entfernt irgendwo lag, konnte er es trotz allen Tastens und Wühlens nicht finden.
Als das Bellen lauter wurde, wollte sich ihm der Magen umdrehen. Er wußte, wenn er das Messer nicht fand, würde er wieder eingefangen werden – und wahrscheinlich noch Schlimmeres erleben. Verzweifelt auf dem Boden umherfühlend, fand er schließlich einen Stein von der Größe seiner Faust. Mit einem leisen Aufschrei packte er ihn und sprang in dichteres Gebüsch.
Die ganze Nacht hindurch rannte er wie ein Besessener immer tiefer in den Wald hinein – stolpernd, fallend, die Füße von Ranken umschlungen, nur für Augenblicke stehenbleibend, um Atem zu schöpfen. Aber die Hunde kamen immer näher, und endlich, kurz nach Morgengrauen, sah er sie, als er einen Blick über die Schulter warf. Es war wie ein Alptraum, der sich wiederholte. Er konnte nicht weiterlaufen. Er drehte sich um und nahm mit dem Rücken zu einem Baum auf einer kleinen Lichtung kauernde Abwehrhaltung ein – mit der rechten Hand einen dicken Ast umklammernd, den er von einem anderen Baum abgerissen hatte, in der linken den Steinbrocken.
Die Hunde sprangen Kunta an, doch er hieb mit dem Knüttel so wild nach ihnen, daß sie zurückwichen und sich bellend und geifernd gerade außerhalb seiner Reichweite duckten, bis zwei toubobs auf ihren Pferden erschienen.
Kunta hatte diese Männer noch nie gesehen. Der Jüngere hob sein Gewehr, doch der Ältere winkte ab, stieg vom Pferd und ging auf Kunta zu. Dabei entrollte er gemächlich eine lange schwarze Peitsche.
Kunta blickte wild um sich, er zitterte am ganzen Körper, und blitzartig erschienen vor ihm die Gesichter aller toubobs , die ihm begegnet waren – in Afrika, auf dem großen Kahn, in dem Gefängnis, an dem Ort, wo er verkauft worden war, auf der heidnischen Farm, im Wald, wo man ihn dreimal eingefangen, geschlagen, ausgepeitscht und auf ihn geschossen hatte. Als der Arm des toubob mit der Peitsche ausholte, schleuderte Kunta mit aller Kraft den Stein und ließ sich zur Seite fallen.
Er hörte den toubob brüllen, dann zischte eine Kugel an seinem Ohr vorbei, und die Hunde waren über ihm. Während er sich auf dem Boden wälzte und nach den Hunden trat, sah er das Gesicht des einen toubob blutüberströmt. Kunta fauchte wie ein wildes Tier, als sie die Hunde zurückriefen und mit ihren Gewehren auf ihn zukamen. Er las auf ihren Gesichtern, daß er jetzt sterben würde, und es war ihm gleichgültig. Der eine sprang vor und packte ihn, während der andere mit dem Gewehr zuschlug, und sie brauchten alle ihre Kräfte, um ihn zu bändigen. Er wehrte sich aus Leibeskräften, er stöhnte und schrie auf arabisch und auf Mandinka. Sie schlugen ihn zusammen, schleppten ihn zu einem Baum, rissen ihm die Kleider herunter und banden ihn an den Stamm. Er bereitete sich darauf vor, totgeschlagen zu werden.
Doch da hielt der toubob mit dem blutenden Gesicht plötzlich inne, und ein merkwürdiger Blick, fast ein Lächeln, trat auf sein Gesicht. Er sagte einige kurze, rauhe Worte zu dem Jüngeren. Dieser grinste und nickte, ging dann zu seinem Pferd und holte ein Jagdbeil, das am Sattel festgeschnallt war. Er hieb einen morschen Baumstamm um und zog ihn zu Kunta hinüber.
Der mit dem blutenden Gesicht deutete auf Kuntas Geschlechtsteile, dann auf das Jagdmesser in seinem Gürtel. Dann
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