Wurzeln
Menschenraub und weißen Kannibalen gesagt hatte, so entsetzt, daß er in der Nacht mehrmals Kunta mit seinen Alpträumen aufschreckte. Kunta nahm sich daher vor, sich selber und den Kleinen auf andere Gedanken zu bringen, also erzählte er ihm am nächsten Nachmittag von den beiden berühmten Onkeln.
»Die Brüder unseres Vaters sind ebenfalls Söhne von Kairaba Kunta Kinte, nach dem ich genannt bin«, begann er stolz, »sie wurden aber von seiner Frau Sireng geboren.« Lamin blickte fragend drein, aber Kunta fuhr fort: »Sireng war die erste Frau unseres Großvaters, und sie starb, bevor er Großmutter Yaisa heiratete.« Kunta stellte den Stammbaum mit Hilfe kleiner Holzstückchen dar. Lamin begriff aber immer noch nicht, das sah er deutlich. Seufzend ging er also zu einer Beschreibung der Abenteuer der Onkel über, die er selber oft und oft, aber immer mit großer Spannung von seinem Vater gehört hatte.
»Unsere Onkel haben niemals Frauen genommen, denn mehr als alles lieben sie zu reisen. Ganze Monde lang wandern sie unter der Sonne und schlafen unter den Sternen. Unser Vater sagt, sie waren, wo die Sonne auf nichts als Sand scheint, wo es niemals regnet. Woanders sahen sie Bäume, so dick, daß es auch bei Tag im Wald dunkel war. Dort wohnen Menschen, die nicht größer sind als du und die immer nackt gehen, auch wenn sie erwachsen sind. Und sie töten riesige Elefanten mit winzig kleinen Pfeilen, die vergiftet sind. Dann waren sie auch in einem Land der Riesen, wo die Krieger den Speer doppelt so weit schleudern können wie unsere stärksten Mandinkas. Sie springen höher als ihr Kopf und sind sechs Handbreit größer als die größten Männer von Juffure.«
Vor dem Schlafengehen führte Kunta seinem Bruder, der mit weit aufgerissenen Augen zusah, sein Lieblingsstück vor: er schlug plötzlich mit einem eingebildeten Schwert um sich, hin und her, auf und nieder, als wäre Lamin einer der Räuber, mit denen die Onkel auf einer Reise täglich zu kämpfen hatten, die viele Monde dauerte und bei der sie Elfenbein, Edelsteine und Gold nach der großen schwarzen Stadt Zimbabwe brachten.
Lamin wollte noch eine Geschichte hören, Kunta sagte aber, er müsse nun schlafen. Kunta hatte sich früher – geradeso wie sein kleiner Bruder jetzt – nach Anhören solcher Geschichten auf seine Matte gelegt und alles bildhaft vor sich gesehen. Manchmal träumte er sogar, er reise mit den Onkeln an alle diese fremden Orte, er spreche mit Menschen, die ganz anders aussahen und taten als die Mandinkas. Erwähnte jemand die Onkel beim Namen, schlug Kuntas Herz bereits schneller. Und es begab sich nun, daß schon wenige Tage später der Name der Onkel in aller Munde war, und das alles war so aufregend, daß Kunta sich kaum zu lassen wußte. An einem heißen, stillen Nachmittag, als fast alle Dorfbewohner entweder draußen vor der Hütte saßen oder im Schatten des großen Affenbrotbaums, war ganz überraschend die Trommel aus dem Nachbardorf zu vernehmen, und Kunta wie auch Lamin horchten aufmerksam, ganz wie die Erwachsenen. Lamin holte hörbar Luft, als er den Namen seines Vaters entzifferte, verstand aber noch nicht, was darauf folgte. Kunta erklärte es ihm: Fünf Tagemärsche in Richtung Sonnenaufgang bauten Janneh und Saloum Kinte ein neues Dorf. Sie erwarteten ihren Bruder Omoro zur feierlichen Einweihung am übernächsten Neumond.
Die Trommel schwieg, und Lamin steckte voller Fragen. »Das sind unsere Onkel? Wo ist dieser Ort? Wird unser fa hingehen?« Kunta antwortete nicht, er hörte seinen Bruder nicht einmal, denn er war schon auf dem Weg zum jaliba. Dort hatten sich bereits andere Dörfler versammelt, und nun erschien auch Omoro, begleitet von der hochschwangeren Binta. Omoro und der jaliba besprachen sich vor aller Augen kurz miteinander, dann gab Omoro ein Geschenk. Die sprechende Trommel lag nahe beim Feuer, das mit seiner Hitze das Trommelfell straffte, und man sah bald befriedigt, wie der jaliba die Antwort Omoros trommelte: »So Allah will, werde ich vor dem übernächsten Neumond im Dorf meiner Brüder eintreffen.« In den nächsten Tagen wurde Omoro, wo er ging und stand, dazu beglückwünscht, daß die Brüder ein Dorf gegründet hatten, das in die Geschichte als das Dorf der Kinte eingehen würde.
Kunta verfiel wenige Tage vor der Abreise seines Vaters auf einen Gedanken, den er nicht recht fassen konnte, so überwältigend war er. War es denkbar, daß der Vater ihn mitnahm? Kunta konnte an nichts
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