Wurzeln
verdrückt hatte.
Während die einen sich im Sitzen munter unterhielten, schlenderten die anderen herum – Männer und Burschen in Rock mit Krawatte, die älteren Frauen allesamt in Weiß, die Mädchen in fröhlichen bunten Kleidern, bisweilen mit Bändern um die Hüften –, und Matilda beobachtete gerührt all ihre unzähligen Enkelkinder, die ruhelos umhertollten und Fangen spielten. Schließlich wandte sie sich an ihren Mann, legte ihre Hand auf seine, die von den Krallen all seiner Kampfhähne zerkratzt und vernarbt war, und sagte friedlich: »Diesen Tag werd ich nie vergessen, George. Wir sind einen langen Weg gegangen, seitdem du das erstemal mit deinem tollen Derbyhut ankamst und mir den Hof gemacht hast. Unsere Familie ist gewachsen, wir haben Kinder, die wieder Kinder haben, und Gott hat geholfen, daß wir alle immer zusammengeblieben sind. Das einzige, was ich mir wünschte – wenn deine Mammy Kizzy hier sein könnte, um das alles sehn zu können wie wir.«
Hühner-George blickte sie mit feuchten Augen an.
»Sie sieht es, Baby. Ich bin ganz sicher: sie schaut uns zu.«
Kapitel 115
Pünktlich am Montag um zwölf Uhr, während der Mittagspause von der Feldarbeit, betraten die Kinder hintereinander im Gänsemarsch die Kirche. Es war ihr erster Schultag in einem Gebäude. In den verflossenen zwei Jahren, seitdem sie in die Stadt gekommen war, hatte Schwester Garrie White – eine der ersten Absolventinnen des Lane College in Jackson, Tennessee – draußen im Freien in Lauben unterrichtet. Die Kirche benützen zu dürfen war eine große Angelegenheit für alle.
Die Vorsteher der »Neuen Hoffnung MEK-Gemeinde«, nämlich Hühner-George, Tom und seine Brüder, hatten Geld gesammelt, um Griffel zu kaufen und Schiefertafeln und die Dreier-Fibel für »Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen«. Seit Schwester Carrie alle Kinder im schulpflichtigen Alter unterrichtete, saßen in den sechs Klassen Schüler und Schülerinnen zwischen fünf und fünfzehn, darunter Toms älteste fünf Kinder: Maria Jane, die schon zwölf Jahre zählte, Ellen, Viney, Klein Matilda und Elizabeth, die war sechs. Klein Tom, der nächste, fing erst ein Jahr später an, und dann Cynthia, die jüngste. Als Cynthia 1883 ihren Abschluß erreichte, war Maria Jane bereits abgegangen, hatte geheiratet und ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Und Elizabeth, zweifellos die gescheiteste der Familie, hatte ihrem Vater Tom Murray ein bißchen Schreiben beigebracht und war sogar eine Art Buchhalterin für seine Geschäfte geworden. Die brauchte er auch, denn mit der Zeit hatte sich seine rollende Schmiede so erfolgreich entwickelt, daß er – ohne daß jetzt irgend jemand Einwände erhoben hätte – längst auch eine stehende Werkstatt einrichten konnte. Damit gehörte er zu den erfolgreicheren Männern der Stadt.
Ein Jahr nachdem Elizabeth angefangen hatte, für ihren Vater die Bücher zu führen, verliebte sie sich in John Toland, einen Neuling in Henning, der auf der 600-Morgen-Farm einer weißen Familie in der Nähe des Hatchie River als Kleinpächter arbeitete. Sie hatte ihn in der Stadt im Gemischtwarenladen kennengelernt und war nicht nur von seinem blendenden Aussehen und seiner muskulösen Erscheinung so beeindruckt, daß sie es gleich ihrer Mutter Irene erzählte, sondern auch von seinen guten Manieren und seiner offensichtlichen Intelligenz. Er konnte sogar ein bißchen schreiben, wie sie gleich beobachtet hatte, als er eine Rechnung quittierte. In den nächsten Wochen, und nicht nur auf den Spaziergängen im Wald, zu denen sie sich alle paar Tage trafen, stellte sich auch heraus, daß er ein junger Mann mit gutem Ruf war und ein fleißiger Kirchgänger, dessen Ehrgeiz besonders darin lag, genug Geld zu sparen, um möglichst bald eine eigene Farm zu betreiben. Und er konnte genauso zärtlich sein, wie er stark war.
Erst nachdem sich die beiden mehr als zwei Monate regelmäßig getroffen und bereits heimlich über Heirat gesprochen hatten, schaltete sich Tom ein, dem von Anfang an nichts entgangen war. Er befahl ihr, sich nicht mehr heimlich fortzuschleichen, sondern John am kommenden Sonntag nach der Kirche mit nach Hause zu bringen. Elizabeth tat, wie ihr geheißen war. John Toland zeigte sich von der freundlichsten und ehrerbietigsten Seite, als er Tom Murray vorgestellt wurde. Aber der gab sich noch schweigsamer als sonst und entschuldigte sich nach höchstens zwei Minuten gezwungener Höflichkeiten.
Nachdem John Toland gegangen
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