Wurzeln
zurückhalten, obwohl sie wußten, daß sich dies nicht schickt, wenn ein griot erzählt. Allerdings nahmen weder der griot noch der kintango Anstoß. Der griot schob eine halbe Betelnuß in den Mund und bot dem kintango die andere Hälfte. Dieser nahm mit Vergnügen an. Der griot schlug seinen Mantel dichter um sich, denn der Abend war kühl, und fuhr in seinem Bericht fort.
»Doch auch Ghana war nicht das reichste unserer Länder. Das reichste und älteste war das alte Königreich Mali. Wie anderswo auch, habe es in Mali Städte, Bauern, Handwerker, Schmiede, Färber, Gerber und Weber gegeben, der Reichtum des Landes aber sei Salz, Gold und Kupfer gewesen. Das Land war vier Mondreisen lang und ebenso breit, und das märchenhafte Timbuktu war seine Hauptstadt. Timbuktu war zugleich das Zentrum der Gelehrsamkeit von Afrika, und hier lebten ständig Tausende Gelehrte, vermehrt noch um den Zustrom wißbegieriger Besucher, die sich belehren lassen wollten von den Weisen, so daß auch große Händler manchmal nichts weiter umsetzten als Pergament und Bücher. Nirgendwo, nicht im kleinsten Dorf, gibt es einen Lehrer oder marabout , der seine Kenntnisse nicht wenigstens zum Teil aus Timbuktu bezogen hat«, sagte der griot.
Als der kintango sich endlich erhob und dem griot dafür dankte, daß er die Schätze seiner Erinnerung mit ihnen geteilt habe, wagten Kunta und andere erstmals zu widersprechen, als man sie schlafen schickte. Der kintango war – jedenfalls vorderhand – entschlossen, über diese Unverschämtheit hinwegzusehen, und begnügte sich damit, die Burschen streng noch einmal schlafen zu schicken, doch hatten sie noch Gelegenheit, ihn anzuflehen, den griot zu bitten, sie noch einmal zu besuchen.
Noch bot der griot samt seinen Geschichten ihnen reichlich Gesprächsstoff, da wurde wiederum Besuch angekündigt, keine sechs Tage später! Ein moro sollte kommen, so nannte man in Gambia die Lehrer der höchsten Stufe, von denen es nur wenige gab, und so gelehrt waren sie – nach vielen Regen des Studiums –, daß sie nicht Schulknaben unterrichteten, sondern deren Lehrer, also etwa den arafang von Juffure.
Sogar dem kintango war anzumerken, daß dieser Besucher etwas ganz Besonderes war, denn er ordnete eine besonders gründliche Säuberung des jujuo an und ließ den Hof mit belaubten Ästen so glatt harken, daß den Fußabdrücken des moro alle Ehre widerfahren würde, beträte er den Hof. Anschließend eröffnete der kintango den versammelten Burschen: »Rat und Segen dieses Mannes, der bald unter uns sein wird, werden nicht nur von gewöhnlichen Menschen gesucht, sondern auch von Häuptlingen und sogar von Herrschern.«
Als der moro am folgenden Morgen eintraf, begleiteten ihn fünf Schüler, welche auf ihren Köpfen Lasten trugen, die, wie Kunta wußte, kostbare arabische Bücher und Pergamente enthielten, auch solche aus dem alten Timbuktu. Als der alte Herr hereintrat, knieten alle hin, auch der kintango und seine Gehilfen, und berührten den Boden mit der Stirn. Nachdem der moro die Anwesenden und den jujuo gesegnet hatte, setzte man sich achtungsvoll um ihn her, und er schlug seine Bücher auf. Zuerst las er aus dem Koran, dann aus Taureta La Musa, Zabora Dawidi und Lingeeli la Isa, den Christen bekannt als Pentateuch, Psalmen Davids und Jesaiah. Öffnete oder schloß der moro ein Buch, rollte er ein Pergament auf oder zusammen, führte er es zuvor an die Stirn und murmelte »Amen«.
Nach der Lesung legte der alte Herr die Bücher beiseite und sprach von den großen Ereignissen und den Menschen, die im Koran der Christen vorkommen, der sogenannten Bibel, von Adam und Eva, von Joseph und seinen Brüdern, von Moses, David, Salomo, vom Tode Abels. Und er berichtete von den Gestalten der neueren Geschichte, von Djoulou Kar Naini, den die toubobs Alexander den Großen nennen, einen mächtigen Herrscher aus Gold und Silber, dessen Sonne die halbe Erde beschienen hatte.
Ehe der moro Abschied nahm, prüfte er die Kenntnisse der Burschen in den fünf täglichen Gebeten zu Allah und lehrte sie, wie sie sich innerhalb der geweihten Moschee in ihrem Dorf zu verhalten hatten, die sie erstmals in ihrem Leben betreten würden, wenn sie nun als Männer zurückkehrten. Danach brach er auf, denn er mußte noch am gleichen Tag eine andere Station seiner Reise erreichen. Die Burschen sangen auf Anweisung des kintango dem moro zu Ehren eines der Lieder, das sie aus dem jalli kea gelernt hatten: »Eine Generation geht
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