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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Stunde erschienen zwei Polizisten, nahmen ihre Aussage auf, gingen davon, um nachzusehen, und kamen nicht wieder. »Man sollte meinen, sie würden wiederkommen und berichten, was da passiert ist«, rief Neela verärgert. »Sie müssen doch wissen, daß wir hier mitten in der Nacht noch auf sind und uns schreckliche Sorgen machen.« Solanka fuhr auf und ließ seinem Groll freien Lauf. »Vermutlich hatten sie keine Ahnung, daß sie dir Bericht erstatten müssen«, sagte er ohne den geringsten Versuch, seinen Worten die Schärfe zu nehmen. Augenblicklich ging sie auf ihn los, stand ihm in Aggressionslust um keinen Deut nach. »Was willst du eigentlich?« fragte sie. »Ich hab’s satt, so zu tun, als hätte ich nicht einen alten Griesgram vor mir.« Und so ging es los, mit der traurigen Spirale von Vorwurf und Gegenvorwurf, diesem uralten, täglichen Beschuldigungsspiel: du hast gesagt nein du hast gesagt, du hast getan nein das warst du, ich sage dir ich hab’s nicht nur satt nein ich hab’s wirklich satt weil du so viel verlangst und so wenig gibst, ach ja nun dann werde ich dir sagen ich könnte dir den ganzen Bestand von Fort Knox und Bergdorf Goodman geben und es würde dir immer noch nicht genügen, und was soll das nun wieder heißen, wenn ich fragen darf, du weißt verdammt genau was das heißen soll. Ach so. Nun gut. Also ich nehme an, das wär’s dann ja wohl. Na klar, wenn du das so willst. Was ich will? Du zwingst mich ja dazu, so was zu sagen. Nein, du konntest es ja gar nicht erwarten, das endlich auszusprechen. Verdammt noch mal, hör auf, mir Worte in den Mund zu legen. Ich hätt’s wissen müssen. Nein, ich hätt’s wissen müssen. Na ja, jetzt wissen wir’s beide. Also okay. Okay.
    In diesem Moment, als sie einander wie blutverschmierte Gladiatoren gegenüberstanden und die Wunden austeilten, die ihre Liebe schon bald tot auf dem Boden dieses emotionalen Colosseums zurücklassen würden, hatte Professor Malik Solanka eine Vision, die seine scharfe Zunge zum Stillstand brachte. Ein großer schwarzer Vogel saß auf dem Dach des Hauses, und seine Schwingen warfen einen tiefen Schatten über die Straße. Die Furie ist hier, dachte er. Eine der drei Schwestern ist schließlich gekommen, um mich zu holen. Das waren nicht Angstschreie, die wir gehört haben; das war der Ruf der Furie. Das Geräusch, als zerbreche etwas auf der Straße - ein explosives Geräusch, als werde ein Betonbrocken aus großer Höhe mit unvorstellbarer Wucht heruntergeschleudert kam nicht von irgendeiner verdammten Vase. Es war das Geräusch eines zerbrechenden Lebens.
    Und wer weiß, was geschehen wäre oder wozu er im Griff der wiedergekehrten Furie noch fähig gewesen wäre, wäre Neela nicht gewesen, hätte sie nicht, in ihren hochhackigen Schuhen um einen ganzen Kopf größer als er, wie eine Königin, wie eine Göttin auf seinen dichten Schopf langer, silberner Haare hinabgeschaut; oder wäre sie nicht so klug gewesen, das Entsetzen zu erkennen, das über sein weiches, rundes, jungenhaftes Gesicht huschte, die Angst, die in den Winkeln seines Amorbogenmundes zitterte; oder hätte sie nicht in diesem letzten aller möglichen Momente den befeuernden Mut, die pure emotionale Stärke gehabt, das letzte Tabu zu brechen, das noch immer zwischen ihnen stand, sich mit der ganzen Courage ihrer Liebe auf unerforschtes Gebiet zu wagen, zu beweisen, daß ihre Liebe über jeden Zweifel hinaus stärker war als der Furor, indem sie ihren langen, vernarbten Arm ausstreckte, um ihm zum allerersten Mal in ihrem Leben und sehr behutsam die verbotenen Haare zu zerzausen, die langen Silberhaare, die ihm auf dem Kopf wuchsen.
    Der Bann war gebrochen. Er lachte laut auf. Eine große schwarze Krähe breitete die Flügel und flog davon, über die Stadt hinweg, um Minuten später neben der Booth-Statue im Gramercy Park tot zu Boden zu fallen. Solanka begriff, daß seine eigene Heilung von dieser seltsamen Krankheit vollendet war. Die Göttinnen des Zorns waren verschwunden; ihre Macht über ihn war endlich gebrochen. Sehr viel Gift war aus seinen Adern geflossen, und sehr vieles, das viel zu lange unterdrückt worden war, wurde endlich freigesetzt. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte er; und Neela ergriff seine Hand, um ihn sanft zu einem Sofa zu führen. »Erzähl sie mir nur, aber ich glaube, es wird eine Geschichte sein, die ich schon kenne.«
     
    Am Ende des Science-Fiction-Films Solaris , der Geschichte von einem mit Meeren

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